«Eine Frau zu vergewaltigen bedeutet, die Seele einer Gemeinschaft zu zerstören»

Artikel, 21.11.2014

Vergewaltigungen in Kriegen gibt es seit Menschengedenken. Seit 2008 gehört es zu den prioritären Aufgaben der UNO, dem grauenvollen Verbrechen der sexuellen Gewalt als Kriegswaffe ein Ende zu setzen. Nachfolgend ein Gespräch mit Zainab Hawa Bangura, UNO-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten.

Portrait von Zainab Hawa Bangura
Zainab Hawa Bangura ist UNO-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten. © UNO

Frau Bangura, Sie sind seit 2012 Sonderbeauftragte des UNO-Generalsekretärs. Gab es schon immer sexuelle Gewalt in Konflikten?

Vergewaltigungen in Kriegszeiten sind so alt wie der Krieg selber. Das zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte, sogar in der Bibel und im Koran ist die Rede davon. Die Herausforderung besteht darin, der Welt zu erklären, dass es ein Verbrechen ist. Es geht dabei um mehr als um Männer, die sich beweisen müssen, dass sie Männer sind, um mehr als um zufällige Handlungen, zu denen sich Einzelne hinreissen lassen, um mehr als unvermeidliche Begleiterscheinungen von Kriegen. Vergewaltigungen werden bewusst geplant und durchgeführt. Sie sind Teil der Kriegstaktik. Dank Studien und dem Engagement vieler Frauen liegt das Thema nun endlich auf dem Tisch des UNO-Sicherheitsrats.

Was unternimmt die UNO, damit es in Konflikten nicht mehr zu sexueller Gewalt gegen Frauen kommt?

2008 verabschiedete die UNO die erste von mehreren Resolutionen, die dafür sorgen sollen, dass Institutionen, die den Frieden und die internationale Sicherheit fördern, sexuelle Gewalt als zentrale Frage behandeln. In den vergangenen sechs Jahren hat die UNO mit Nachdruck an einem weltweiten Rechtsrahmen gearbeitet, der sicherstellen soll, dass die Täter, die in früheren oder laufenden bewaffneten Konflikten sexuelle Verbrechen begangen haben, nicht straffrei bleiben.

Was ist dabei Ihre Aufgabe?

Mein Büro harmonisiert und koordiniert die Arbeit der beteiligten Akteure, das heisst das öffentliche Gesundheitswesen, die humanitäre Hilfe, die Entwicklungszusammenarbeit und die internationalen Einrichtungen für Frieden und Sicherheit. Wir arbeiten mit den Regierungen zusammen und unterstützen sie. Wir müssen den Urhebern dieser Gräueltaten klar machen, dass sie für ihre Verbrechen bestraft werden. Den Opfern wollen wir zeigen, dass wir ihnen beistehen und sie die medizinische, psychosoziale und rechtliche Hilfe erhalten, die sie benötigen. In allen Ländern, in die ich reise, gehört es zu meinen Prioritäten, den Opfern zuzuhören und ihnen wieder Hoffnung zu geben, dass ihnen Gerechtigkeit getan wird. In Ländern, in denen ein Konflikt im Gang oder gerade beendet ist, funktioniert das Rechtssystem nicht mehr. Deshalb gehört es zu den Prioritäten meines Büros, die Regierungen beim Wiederaufbau ihrer Rechtssysteme zu unterstützen. Wohlverstanden, es geht um solide und unabhängige Rechtssysteme, welche die Frauenrechte respektieren. Wenn eine Gesellschaft die Frauen in Friedenszeiten nicht achtet, wird sie sie in Kriegszeiten erst recht misshandeln. Wir entsenden ausserdem Expertinnen und Experten, welche die Rechtslage in den entsprechenden Ländern analysieren.

Konnten Sie in den vergangenen Jahren positive Veränderungen feststellen, was die Problemwahrnehmung durch die Regierungen betrifft?

Ja, die Welt ist aufgewacht und hat realisiert, dass diese Verbrechen wirklich geschehen und dass sie bei den Betroffenen tiefe Spuren hinterlassen. Heute engagieren sich 155 Länder gegen sexuelle Gewalt in Konflikten. Zu unseren Prioritäten gehört es, den politischen Willen zu stärken, gegen diese Verbrechen etwas zu unternehmen. Wir haben zum Beispiel Vereinbarungen mit der Demokratischen Republik Kongo, Somalia und dem Südsudan abgeschlossen. Somit gibt es Hoffnung.

Derzeit werden die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung nach 2015 diskutiert. Weshalb ist die Beseitigung sexueller Gewalt in Konflikten ein Schlüsselelement im Kampf gegen Armut und für eine nachhaltige Entwicklung?

Nachhaltige Entwicklung und der Kampf gegen sexuelle Gewalt sind wie die Pedale eines Fahrrads: Es braucht beide, damit es funktioniert. Eine Gesellschaft wird nicht aus der Armut herausfinden und ihr volles Potenzial entfalten, solange sie die Frauen, die ja 50% der Bevölkerung ausmachen, ausschliesst und missbraucht. Sexuelle Gewalt ist direkt für die sogenannte «Feminisierung» der Armut verantwortlich. Eine Frau, die vergewaltigt wurde und danach von ihrem Ehemann und ihrer Umgebung verstossen wird, die weder Zugang zu Boden noch zu irgendeiner anderen Form von Einkommen hat, kann ihre Kinder nicht ernähren und zur Schule schicken. Sie lebt unter äusserst prekären Verhältnissen. Wenn wir den Teufelskreis der sexuellen Gewalt durchbrechen und die dringendsten Bedürfnisse der Opfer decken, können die Frauen in der Gesellschaft integriert bleiben, was zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt. Die Beseitigung von sexueller Gewalt in Konflikten ist deshalb ein wichtiges Thema für die Post-2015-Agenda.

Welche langfristigen Folgen hat sexuelle Gewalt in Kriegszeiten für die Gesellschaft und die Versöhnung?

Vergewaltigte Frauen sind noch immer stigmatisiert und werden häufig verstossen, weil sie als Schande gelten. Eine Frau zu vergewaltigen bedeutet, die Seele einer Gemeinschaft zu zerstören. Die Frauen werden gezielt mit dieser Absicht missbraucht. Genau aus diesem Grund ist es auch sehr schwierig, solche Verbrechen zu vergeben. Sie sind eine grosse Herausforderung für die Versöhnung und einen dauerhaften Frieden, denn sie bleiben im kollektiven Gedächtnis haften. Ausserdem kommen nach Vergewaltigungen Kinder zur Welt, die für immer an diese Gewalt erinnern.

Was gescheht mit diesen Kindern?

In der Demokratischen Republik Kongo habe ich ein Waisenhaus besucht. Dort traf ich 260 zurückgelassene Kinder, weil ihre Mütter durch sie nicht ständig an die erlebte Gewalt erinnert werden wollten. Das Schicksal dieser Kinder, die aus Vergewaltigungen entstanden sind, war Thema des letzten Berichts des Generalsekretärs. In Bosnien sind diese Kinder heute Jugendliche. Wir wollen mit einer Studie herausfinden, was aus ihnen geworden ist, wie sie leben, welche Chancen sie haben und mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert sind.

Welche Rolle können Frauen in der Konfliktlösung und in Friedensprozessen spielen?

Frauen sind auf der ganzen Welt kritische Stimmen, Friedensgarantinnen und treibende Kräfte für Veränderungen. Sie haben die Fähigkeit, Menschen zu einen und übernehmen sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft eine friedensstiftende Rolle. Doch häufig können sie sich gar nicht an Diskussionen beteiligen, die sie direkt betreffen. Bis heute sind Friedensprozesse häufig Männersache. Die Männer teilen dabei die Macht unter sich auf. Doch ein Friedensprozess könnte auch anders aussehen: Im Interesse der Familien und der Gesellschaft müssen auch die Frauen daran teilnehmen können. Dazu müssen wir mehr Frauen ausbilden. Bei den Friedensprozessen, die von der UNO wesentlich mitgestaltet werden, müssen wir sicherstellen, dass sich die Frauen Gehör verschaffen können. Im aktuellen Friedensprozess in Kolumbien konnten wir beispielsweise erreichen, dass Frauen und Opfer einbezogen werden.

Frauen beim Unterricht heben ihre Hand, um eine Frage zu stellen.
Region der Grossen Seen: Frauen lernen lesen und schreiben und werden über ihre Rechte informiert. © DEZA

Die Geschlechtergleichstellung ist ein Thema, das die DEZA in alle Projekte einbezieht. Die Prävention und der Schutz der Frauen vor sexueller Gewalt ist ein Schlüsselelement der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Mit ihrem Aktionsplan für Frauen, Frieden und Sicherheit engagiert sich die Schweiz dafür, dass die UNO-Resolution 1325 umgesetzt wird. Wie kann die Schweiz Frauen und Mädchen in Konfliktsituationen besser schützen?

Die Schweiz zeigt Leadership in der Förderung der Geschlechtergleichstellung. Eine Vorreiterrolle hat sie gespielt, indem sie sich dafür einsetzte, dass die UNO-Resolutionen gegen sexuelle Gewalt in den einzelnen Ländern tatsächlich zur Anwendung kommen. Mit der Verabschiedung eines ehrgeizigen nationalen Aktionsplans im 2007 gab sie der Welt ebenfalls ein wichtiges Signal. Ich ermutige alle Länder, ähnliche Bestimmungen einzuführen. Damit können sie den Schritt von der Theorie zur Praxis vollziehen. Verbessern könnte die Schweiz ihre Unterstützung für die Opfer. Bis heute, rund 20 Jahre nach dem Ende des Bosnien-Konflikts, konnten weniger als 20 Frauen ihren Fall vor Gericht bringen, obwohl es vermutlich 40’000 bis 50’000 Vergewaltigungen gab. Und dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Die Schweiz sollte sich bewusst sein, dass es in allen aktuellen Krisen von Syrien über Darfur oder die Zentralafrikanische Republik bis zum Irak zu sexueller Gewalt kommt. In diesen Krisen ist es wichtig, nicht nur die humanitäre Seite zu sehen, sondern auch etwas für die Frauen zu unternehmen, die missbraucht wurden.

Straffreiheit gehört zu den grössten Herausforderungen im Kampf gegen sexuelle Gewalt. Wie wollen Sie dieses Problem national und international lösen?

Wir müssen eine klare Botschaft an die Täter senden: Wer du auch bist, wo du auch bist, wir werden dich zur Rechenschaft ziehen! Dazu müssen jedoch die Regierungen ihre Verantwortung wahrnehmen. Denn viele Täter sind einfache Soldaten, die den Befehl erhielten, solche Verbrechen zu begehen. Deshalb müssen wir international und national gemeinsam darauf hinarbeiten, dass niemand mehr auf Straffreiheit zählen kann. In gewissen Ländern gelten Vergewaltigungen von Frauen in Kriegszeiten nach wie vor nicht als Verbrechen. Problematisch ist auch, dass die Polizei häufig weder die Ausbildung noch die Erfahrung besitzt, um solche Verbrechen aufklären zu können. Die Richter wiederum kennen weder das humanitäre Völkerrecht noch die Menschenrechte. Wir müssen deshalb diese Regierungen auf mehreren Ebenen unterstützen.

Was ist Ihre Botschaft an die Schweizer Öffentlichkeit zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen?

Ich denke, dass wir alle dazu beitragen können, dass es nicht mehr zu Gewalt gegen Frauen kommt. Wenn wir Schulkinder oder eigene Kinder haben, sollten wir ihnen beibringen, keine Gewalt auszuüben. In der Politik können Sie sich ebenfalls für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen einsetzen. Wenn Sie Journalist sind, sollten Sie über das Thema schreiben. Sowohl Frauen als auch Männer können den Mentalitätswandel vorantreiben. Wir haben alle eine Verantwortung, uns für dieses gesellschaftliche Problem zu engagieren. Wir müssen auch die Stigmatisierung bekämpfen, unter der vergewaltigte Frauen leiden, damit sie aus dem Schatten heraustreten können und sich nicht mehr länger schämen und fürchten müssen. Wir müssen ihnen neue Hoffnung und eine Ausbildung geben, damit sie lernen, welche Rechte sie haben. Denn je mehr Vertrauen eine Frau in ihre Fähigkeiten hat, desto weniger wird sie Opfer von Gewalt. Der Internationale Tag vom 25. November hat eine wichtige symbolische Tragweite. Wir müssen an diesem Tag ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wichtig die Selbständigkeit der Frauen ist.