UNAIDS legte für 2011–2015 eine «Null»-Strategie fest: keine Neuinfektionen, keine Diskriminierung, keine Todesfälle durch Aids. Welche Fortschritte wurden bisher tatsächlich erzielt?
Dass wir den Kampf gegen die HIV-Epidemie äusserst entschlossen führen, zahlt sich aus: Ein Ende der Epidemie scheint nun in Reichweite. Die Zahl der Infizierten, die von den Fortschritten der letzten Jahre im Kampf gegen HIV und insbesondere von den neuen Behandlungen profitieren, ist erfreulicherweise sehr stark gestiegen. Aktuell erhalten fast 8 Millionen HIV-Infizierte eine antiretrovirale Behandlung. In den vergangenen 24 Monaten ist diese Zahl weltweit um 63 % gestiegen. Diese Menschen können ein längeres, aktiveres Leben bei guter Gesundheit führen.
Neue Präventionsstrategien wie die Beschneidung bei Männern oder eine Kombination von Behandlung und Prävention, vor allem bei Müttern und Kindern, hat bewirkt, dass die Neuinfektionen und Todesfälle infolge von Aids weltweit kontinuierlich zurückgehen.
2011 steckte sich UNAIDS mit seinen Partnern das Ziel, dass keine Kinder mehr neu mit HIV infiziert werden und infizierte Mütter so gesund bleiben, dass sie sich um ihre Kinder kümmern können und diese aufwachsen sehen. Ich bin überzeugt, dass dieses Ziel realistisch ist. Die Hälfte des Rückgangs an HIV-Neuinfektionen betrifft Neugeborene. In Ländern mit hohem HIV-Anteil, aber einem guten Zugang zu antiretroviralen Behandlungen werden heute praktisch keine Säuglinge mehr bei der Geburt mit HIV infiziert. Das nährt die Hoffnung, dass nun eine Generation von Kindern ohne HIV zur Welt kommt. UNAIDS konzentriert sich insbesondere auf die 30 Länder, in denen über 90 % aller Neuinfektionen von Kindern auftreten. Wenn wir gemeinsam auf das Ziel hinarbeiten, dass kein Kind mehr mit HIV zur Welt kommt, sollte das Ziel «Null» bis 2015 Realität werden.
Wo zeigen sich seit 2011 bedeutende Fortschritte im Kampf gegen Aids? Wo gab es wesentliche Enttäuschungen?
Zu den wichtigsten Fortschritten gehörte wahrscheinlich die Entwicklung einer wirksamen Behandlung. Die antiretroviralen Medikamente haben Millionen von Menschenleben gerettet. Aktuelle Studien zeigen, dass Infizierte dank dieser Behandlung nicht nur länger leben, sondern das Virus auch seltener übertragen. Bei HIV-Infizierten mit antiretroviraler Behandlung sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Virus an den Partner oder die Partnerin weitergeben, um 96 %. Seit einiger Zeit wissen wir auch, dass diese Behandlung Neuinfektionen bei Kindern äusserst wirksam verhindert. Wenn eine HIV-infizierte Frau während der Schwangerschaft antiretrovirale Medikamente erhält, liegt die Gefahr, dass sie bei der Geburt oder beim Stillen das Virus auf den Säugling überträgt, unter gewissen Voraussetzungen bei maximal 5 %.
Nun müssen wir dafür sorgen, dass alle Betroffenen eine solche Behandlung erhalten. Aktuell haben von den 15 Millionen Menschen, die eine antiretrovirale Therapie benötigen, 7 Millionen noch immer keinen Zugang dazu. UNAIDS setzt sich dafür ein, dass bis 2015 alle Infizierten die lebensrettende Behandlung erhalten.
Wie positioniert sich UNAIDS gegenüber den Stellungnahmen gewisser sehr «konservativer» Akteure, wenn es um den Kampf gegen die Diskriminierung oder Stigmatisierung von HIV-Infizierten geht, oder im Bereich der Prävention beim Zugang von Jugendlichen und Minderheitsgruppen zu Leistungen, Information, Behandlung und Pflege?
Der universelle Zugang zur Prävention und Behandlung von HIV beinhaltet, dass alle bedürftigen Personen Betreuung erhalten – ohne Stigmatisierung und Diskriminierung. Zwar konnten wir bereits grosse Fortschritte beim Zugang zu Behandlungen auch für stark marginalisierte Bevölkerungsgruppen erzielen, aber es bleibt noch viel Arbeit. Die Philosophie von UNAIDS besteht darin, die Menschenrechte bei seinen Einsätzen und seinem Engagement vorbehaltslos zu achten. Entsprechend bekämpft UNAIDS jegliche Stigmatisierung und Diskriminierung im Zusammenhang mit HIV. Wir arbeiten mit sehr unterschiedlichen Partnern wie Gemeindeorganisationen, konfessionellen Gruppen, politischen Entscheidungsträgern und Regierungen, wissenschaftlichen Ausschüssen, Gesetzesvollzugsbehörden usw. zusammen. Unser Kampf konzentriert sich auf die Bereitstellung zuverlässiger Daten, die Stärkung des politischen Engagements, die Mobilisierung möglichst zahlreicher Akteure gegen Stigmatisierung und Diskriminierung und für einen besseren Zugang zum Rechtssystem sowie auf die Stärkung der Zivilgesellschaft und der fachlichen Hilfe im Engagement gegen Strafnormen, Strafmethoden, Stigmatisierung und Diskriminierung. Jeder Mensch hat das Recht auf Gesundheit und alle Leistungen, die dazu beitragen, überall auf der Welt.
Die internationale Gemeinschaft diskutiert zurzeit darüber, welche globalen Entwicklungsziele nach 2015 auf die aktuellen MDG folgen sollen. Wo sehen Sie den Platz von HIV/Aids in diesen Diskussionen?
Der Kampf gegen die HIV-Epidemie gehört zu den zentralen Fragen unserer Epoche, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Aids-Epidemie stoppen können. Wir sind jetzt daran, das volle Potenzial im Kampf zur Rettung von Leben zu erreichen. Es wäre unvernünftig und kontraproduktiv, wenn wir das beispiellose Engagement, auf das sich der Norden und der Süden geeinigt haben, nun einstellen würden. Deshalb versuchen wir weiterhin, alle Akteure dafür zu mobilisieren, dass HIV auch nach 2015 zu den zentralen Zielen gehört. Nicht mit einem isolierten, vertikalisierten Ansatz, sondern mit einem umfassenden, integrativen Gesundheitskonzept, das die HIV-Problematik und alle Erkenntnisse der letzten 30 Jahre einbezieht und dank dem wir so viel wie nie zuvor in so kurzer Zeit im Gesundheitsbereich erreicht haben.
Was erwarten Sie vom Engagement der Schweiz? Auf welchen Ebenen kann die Schweiz die wertvollsten Beiträge leisten?
Die Schweiz und UNAIDS arbeiten seit dem Beginn der HIV-Epidemie zusammen. Die Schweiz leistet nicht nur einen bedeutenden finanziellen Beitrag, sondern übernimmt auch Leadership und eine politische Führungsrolle in wesentlichen Punkten der HIV-Bekämpfung, etwa bei der Förderung der Menschenrechte und beim sozialen Schutz für die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Wir haben immer von der Kultur und vom Know-how der Schweiz im Bereich der öffentlichen Gesundheit profitiert. Wir sind der ehemaligen Bundespräsidentin Ruth Dreifuss dankbar für ihren wichtigen Beitrag in diesem Bereich.
Sehr nützlich für UNAIDS sind zum Beispiel die langjährige Erfahrung der Schweiz im Bereich der Risikoreduktion für Konsumenten von injizierbaren Drogen und ihr Engagement in den Diskussionen über das Abkommen über handlungsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS). Wir lassen uns davon inspirieren, um die übrigen Länder zu sensibilisieren und zu beraten.
Wir sind der Schweizer Regierung dankbar, dass sie den Sitz von UNAIDS in Genf beherbergt und dass die Schweiz aktiv im Rat für die Programmkoordination, dem Leitungsgremium von UNAIDS, mitwirkt.