Gespräch mit Lucas Riegger, Regionalbeauftragter für humanitäre Angelegenheiten, Mali

Artikel, 15.05.2013

«Eine chaotische Situation und ein starkes Team»

Ein Jahr nach der Nahrungsmittelkrise und der Eroberung des Nordens von Mali durch bewaffnete Gruppen ist die humanitäre Lage als kritisch einzustufen, die Auswirkungen der Situation sind in der gesamten Region zu spüren. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) ist seit 35 Jahren in Mali tätig und hat sich immer wieder auf Krisen einstellen müssen. Seit Mitte Februar 2013 ist Lucas Riegger vom Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH) vor Ort, um das DEZA-Kooperationsbüro (Kobü) zu unterstützen. Zuvor war er dem Welternährungsprogramm (WFP) von der Humanitären Hilfe als Fachkraft zur Verfügung gestellt worden und in Dakar (Senegal) stationiert.

Seit mehr als einem Jahr erlebt Mali eine der schlimmsten Krisen seiner Geschichte. Würden Sie uns die Situation kurz beschreiben?

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt halten sich im Süden Malis sowie in Mauretanien, Niger und Burkina Faso mehr als 450’000 Menschen auf, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Die Lage der meisten von ihnen ist weiterhin sehr schwierig. Die wirtschaftlichen Perspektiven des Landes sind alles andere als ermutigend. Die staatlichen Steuerungsmechanismen sind geschwächt. Nach der Invasion der bewaffneten Gruppen stehen Instandsetzungsarbeiten an, zudem müssen die Ereignisse verarbeitet werden. Bald beginnt die Regenzeit, die für die Wiederbelebung der Landwirtschaft massgebend sein wird. Zudem finden demnächst Wahlen statt, von denen zu hoffen ist, dass sie zur nationalen Versöhnung beitragen. Es muss unbedingt vermieden werden, dass eine erneute Nahrungsmittelkrise die derzeitige politische Krise noch verschärft.

Wie hilft die DEZA der Bevölkerung?

Die meisten ihrer Entwicklungsprogramme im Norden mussten wegen der Sicherheitsprobleme bis auf Weiteres eingestellt werden. Deshalb stellt die DEZA zurzeit umfangreiche Mittel für multilaterale Aktivitäten zur Verfügung. Diese Mittel gehen zum Beispiel an UNHCR, WFP, UNICEF und OCHA (insgesamt 14,5 Millionen CHF), sowie an das IKRK, das eine Schlüsselrolle spielt, da es seine humanitären Einsätze im Norden fortsetzen kann (insgesamt 8,25 Millionen CHF). Diese Partner stellen den Menschen, die durch die Unsicherheit im Norden des Landes vertrieben worden sind, das Lebensnotwendigste zur Verfügung. Die DEZA hat ihr Team in Mali durch Fachkräfte der Nothilfe verstärkt und zwei Ingenieure für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung entsandt, die das UNHCR in Niger unterstützen.
Darüber hinaus hat die Schweiz, über die humanitären Organisationen der UNO, bei der Nahrungsmittel- und Ernährungskrise 2012 umfangreiche Mittel bereit gestellt (insgesamt 21,15 Millionen Franken, davon 18,5 Millionen für das WFP). Schweizerische und internationale NGO wurden mit Mitteln in Höhe von insgesamt 470’000 Franken ebenfalls unterstützt; ein Beitrag von 0,5 Millionen Franken erlaubte dem nigerianischen Nationalfonds für die Vorbeugung und Beilegung von Nahrungsmittelkrisen, seine Aktivitäten auszuweiten. Zudem stellte die Schweiz durch Caritas Milchprodukte im Wert von rund 1,5 Millionen Franken zur Verfügung.

Für die humanitären Organisationen war der Zugang zum Norden des Landes schon vor der militärischen Intervention Frankreichs sehr schwierig. Wie ist das heute?

Als die bewaffneten Gruppen den Norden erobert hatten, war dieses Gebiet nicht mehr zugänglich. Doch nach und nach gelang es den humanitären Organisationen – vor allem dem IKRK – dank Verhandlungen, humanitäre Hilfsgüter dorthin zu bringen, obwohl ihnen die bewaffneten Gruppen zahlreiche Beschränkungen auferlegten. Diese Gruppen vertreten salafistische Lehren, die mit unseren humanitären Grundsätzen nicht immer vereinbar sind. Die NGO, denen diese Gruppen nicht misstrauten, konnten ihre Teams im Norden weiterarbeiten lassen, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie nicht von Leuten aus dem Westen geleitet wurden, sondern – warum nicht – von afrikanischen Katholiken.
Die DEZA stellt 0,5 Millionen Franken für die Flüge des Humanitären Flugdienstes der Vereinten Nationen (UNHAS) zur Verfügung, ohne den die humanitären Organisationen kaum arbeiten könnten. Die Flugverbindungen erlauben die Umgehung zahlreicher Hindernisse zwischen Bamako und den Städten des Nordens: darunter die Kriminalität vor allem in Form von Überfällen und Entführungen, der Terrorismus und nicht zuletzt auch die Entfernungen – nach Timbuktu braucht man mit dem Auto zwei volle Tage.

Sind Sie selbst schon im Norden Malis gewesen? Wie war Ihr Eindruck?

Ich war einmal in Mopti, das im Zentrum liegt, und ich werde demnächst wieder dort sein, um unsere Partner zu treffen. In der Stadt selbst ist man in Sicherheit, doch je weiter man sich von ihr entfernt, desto unsicherer wird es. Ich möchte bald auch nach Timbuktu reisen, um zu sehen, ob und wann die DEZA dort ihre Entwicklungsarbeit wieder aufnehmen kann.
Spricht man in Bamako oder in Mopti mit den Leuten auf der Strasse, sieht man, wie erleichtert sie über den Rückzug der bewaffneten Gruppen sind. In Mopti sagten mir die Leute, dass sie andernfalls gezwungen gewesen, Bärte zu tragen, ihre Hosen zu kürzen und eine fortschrittsfeindliche Lebensweise anzunehmen.

Was sind Ihre Aufgaben als Regionalbeauftragter für humanitäre Angelegenheiten hier in Mali? Wie sieht Ihr Alltag aus?

In erster Linie habe ich die Aufgabe, die humanitären Aktivitäten der DEZA auf regionaler Ebene zu koordinieren, zunächst in Mali und dann in den Nachbarländern Niger und Burkina Faso. Ich betreue zum Beispiel die alle zwei Wochen stattfindenden thematischen Foren, an denen Vertreterinnen und Vertreter von NGO, Regierung und UNO-Organisationen teilnehmen. Diese Foren dienen dem Austausch von Informationen, der Koordinierung von Aktivitäten und der Entwicklung gemeinsamer Strategien in den Bereichen Unterkunft, Logistik, Ernährungssicherheit, Hygiene und sanitäre Grundversorgung, Schutz und weiteres. Vorrang haben Ernährungssicherheit und Schutz. Die DEZA entsandte unlängst einen Schweizer Architekten, der in Bamako die Sektorgruppe «Unterkunft» koordiniert, sowie zwei Ingenieure für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, die für das UNHCR in Niger tätig sind.
Wenn das Schuljahr zu Ende geht und die Bestellung der Äcker bevorsteht, werden voraussichtlich viele Binnenvertriebene in ihre Dörfer im Zentrum und im Norden Malis zurückkehren und dort feststellen, dass sich sehr vieles verändert hat. In der Umgebung der Häuser wie auf den Feldern laufen sie Gefahr, auf Blindgänger oder Minen zu treten. Daher ist es wichtig, dass sich die Programme nicht nur mit dem wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung befassen, sondern auch mit der Aufklärung der Zivilbevölkerung über solche Risiken.
Zurzeit arbeite ich auch an der Planung von Aktivitäten, die den immer recht heiklen Übergang von der Nothilfe zu den Entwicklungsprogrammen erleichtern sollen, welche in Mali eines Tages wieder anlaufen werden.

Apropos: Was machen die Programme des DEZA-Kooperationsbüros?

Die meisten der Entwicklungsprogramme im Norden sind nach wie vor ausgesetzt. Zurzeit erhalten die Menschen keine entwicklungsbezogene Hilfe mehr, sondern vor allem lebensrettende Nothilfe: In Gebieten, in denen schwerwiegende Probleme bestehen, die aber noch zugänglich sind, werden zum Beispiel Lebensmittel verteilt, wird medizinische Hilfe geleistet und werden Brunnen repariert. Diese Hilfe, die vom Bund mitfinanziert wird, stellen das IKRK sowie UNO-Organisationen und internationale NGO zur Verfügung, die auf Nothilfe spezialisiert sind. Sobald die Sicherheitslage wieder besser ist, wird die Nothilfe durch Entwicklungsarbeit ersetzt. Zuvor jedoch muss die Infrastruktur wiederhergestellt (Wasserstellen, Schulen, Pisten, Märkte) und müssen die öffentlichen Einrichtungen mit Pflegepersonal, Lehrkräften, Zivilstandsbeamten, technischen Beratern für Landwirtschaft und Viehzucht etc. ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Die Instabilität des Landes hat Hunderttausende zur Flucht in die Nachbarländer Malis veranlasst. Wie schätzen Sie die Situation der malischen Flüchtlinge in diesen Ländern ein?

Kürzlich wandte sich die Organisation «Médecins sans frontières», die in den in Mauretanien eingerichteten Lagern tätig ist, mit einem Hilfsappell an die Öffentlichkeit. Die Situation der Flüchtlinge ist mehr oder weniger prekär, je nachdem, in welchem Gebiet sie sich aufhalten. Im Übrigen ist der Flüchtlingsstatus vielleicht das geringere Übel, aber er ist mit Sicherheit ein Übel.

Wie ist die Situation der Binnenvertriebenen?

Die meisten Binnenvertriebenen sind sesshafte Bauern und Hirten, Händler und Beamte, die auf der Flucht vor den bewaffneten Gruppen in den Süden gegangen sind. Dort erhielten sie keine speziell auf ihren Bedarf zugeschnittene Hilfe. Viele kamen in der Hoffnung, es sei nur vorübergehend, bei Verwandten oder Freunden unter. Inzwischen sind eineinhalb Jahre vergangen, und an ihrer Situation hat sich nichts geändert. Sie ist besonders kompliziert, weil sie kaum auf Hilfe zählen können. Da sie verstreut bei Gastfamilien leben, sind sie schwer zu lokalisieren, obwohl sich die Gemeinden und Behörden im Süden sehr darum bemühen. Vereinzelt sind Finanzhilfen und Lebensmittel an Binnenvertriebene verteilt worden.
Es kommt hinzu, dass der Süden Malis unter einer von den Ereignissen verursachten Wirtschaftskrise leidet. Diese Krise wird durch das nach dem Putsch verhängte Finanzembargo noch verschärft. Das Einfrieren bestimmter internationaler Zahlungen hat gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit und den Arbeitsmarkt. Der Zustrom von Binnenvertriebenen stellt diejenigen, die bereits zuvor um ihr Überleben kämpfen mussten, vor zusätzliche Probleme. Überdies werden sowohl der Handel als auch die Viehzucht durch das Klima der Unsicherheit eingeschränkt, das von den bewaffneten Gruppen weiter geschürt wird. Die Wanderung der Herden, die auf der Suche nach Weideland nach Süden ziehen, wird behindert, und daher kommt es in manchen Gegenden zu einer Konzentration von Vieh. Dies wiederum trägt nicht zur Lösung der Probleme bei, die das Zusammenleben von Sesshaften und Nomaden im Sahel seit jeher aufgeworfen hat, und die durch die demografische Entwicklung noch verschärft werden.

Anfang 2012 gab es in Mali eine Dürre mit gravierenden Folgen für die Ernährungssicherheit. Was wird für 2013 erwartet?

Die durch die Missernte von 2011 verursachte Nahrungsmittelkrise hatte Auswirkungen, die noch heute an der Verschuldung der sozial schwächsten Haushalte erkennbar sind. Die Ernte von 2012 hingegen war recht gut, die Rebellen haben die Bauern im Allgemeinen nicht an der Feldarbeit gehindert. Daher gibt es auf den Märkten in der Nähe der Anbaugebiete heute noch viel Getreide und andere Nahrungsmittel aus der lokalen Produktion. Doch diese Vorräte nehmen immer mehr ab, je näher die magere Zeit vor der nächsten Ernte rückt. Je weiter man nach Norden kommt, desto weniger Ressourcen gibt es. In Kidal zum Beispiel beträgt der jährliche Niederschlag durchschnittlich 100 mm, und die landwirtschaftliche Produktion ist sehr gering. Die Menschen müssen daher mit anderen Tätigkeiten wie Handel oder Wanderviehwirtschaft ihr Auskommen finden. Die Schliessung der Grenzen hat den Zugang zu Nahrungsmitteln erheblich erschwert; viele Erzeugnisse gelangen nicht mehr auf die Märkte. Alle diese Faktoren beeinträchtigen die Ernährungssicherheit und verstärken die Mangelernährung.
Überdies sind die Lebensmittelpreise, die sich nach dem Benzinpreis richten, in der ganzen Region sehr hoch. Da die Transporte zur Umgehung der gefährlichen Zonen gezwungen sind, konzentriert sich die Nachfrage auf bestimmte Gebiete. Auch demografische Faktoren sind für den allgemeinen Preisanstieg verantwortlich: Selbst eine gute Ernte reicht nicht aus, um die ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren.

Wie ist die Lage in Bamako? Wirkt sich die Instabilität des Nordens auf den Alltag in der Hauptstadt aus?

Die Bevölkerungsdichte der ärmsten Quartiere Bamakos hat durch den Zustrom von Binnenvertriebenen zugenommen, diese Entwicklung ist weder der sanitären Grundversorgung noch der Hygiene zuträglich. Unter den Vertriebenen gibt es auch Beamte, die in den Norden zurückkehren werden, sobald ihre Büros in staatlichen Einrichtungen, die von den bewaffneten Gruppen beschädigt oder zerstört wurden, instand gesetzt oder wiederaufgebaut sind. Der Wiederaufbau ist zwar geplant, doch die fehlende Sicherheit verzögert den Beginn der Arbeiten. Erfreulicherweise beziehen die meisten Beamten auch weiterhin ihr Gehalt, das zwar bescheiden ist, aber ihr Überleben sichert.

Und Sie selbst? Wie leben Sie in Bamako?

Bamako ist eine Stadt, die sich etwas chaotisch entwickelt, in der man jedoch dank der Freundlichkeit der Menschen und auch dank der Vegetation gut leben kann. Es gibt zwar viele Verkehrsstaus, doch man kommt trotzdem fast pünktlich zu Sitzungen auf der anderen Seite der Stadt! Ich sehe meine Aufgabe hier als interessante Herausforderung: Mali ist für mich kein Neuland, aber man kann immer etwas lernen, ganz gleich in welchem Umfeld. Das Team des Kooperationsbüros ist sehr sympathisch und leistet hervorragende Arbeit: Mir hilft es dabei, mich einzuarbeiten und zurechtzufinden, die Menschen hier im Land unterstützt es mit grossem Sachverstand, mit Hilfsbereitschaft und mit seiner ganzen Energie.