Interview mit Annemarie Sancar, Beraterin für Sektorpolitik Gender Equality der DEZA

Artikel, 15.05.2013

Bern, den 17.04.2013

Die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern unterminiert die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und stellt ein massives Hindernis für die Entwicklung dar. Seit 10 Jahren hat die DEZA die Genderfrage als Querschnittsthema in all ihren Programmen implementiert.

Frau Sancar, Sie sind Gender-Expertin und Focal Point des DEZA-Gendernetzwerkes. Können Sie uns aufzeigen, welche Instrumente entwickelt wurden, um die Genderfrage zu einem integralen Bestandteil aller DEZA-Projekte zu machen?

2003 wurden mit der Verabschiedung der Gender-Politik durch die Direktion auch Instrumente lanciert, um die Ziele der Politik nachhaltig in die Praxis umzusetzen. Das «Toolkit für Gender-Gleichstellung» unterstützt die Mitarbeitenden und Partnerorganisationen dabei, gendersensitive Analysen der Kontexte zu machen, relevante Genderziele zu formulieren, Indikatoren zu erarbeiten– eine Anleitung für qualitativ hochstehendes Gender Mainstreaming also. Zudem entstanden sektorspezifische Materialien, um die politische Absicht der Entwicklungszusammenarbeit - die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, um Armut zu reduzieren - in Wasserprogrammen, in der Berufsbildung, in Konfliktsituationen oder in der humanitären Hilfe wirkungsvoll zu realisieren. Wichtig waren auch Anleitungen für die betriebliche Gleichstellung in der DEZA und den Kooperationsbüros. Über mehrere Jahre wurden Trainings angeboten, heute sind es vor allem auf regionale und thematische Bedürfnisse zugeschnittene Workshops für gender-bewusste Entwicklungszusammenarbeit in spezifischen Kontexten und mit lokalen Partnern.

Was ist die genaue Bedeutung von Gender Mainstreaming?

Gender Mainstreaming (GM) heisst, dass alle Aktivitäten auf ihre Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse überprüft werden und dass Gender-Gleichstellung ebenfalls Ziel der Tätigkeiten sein soll. Projekte sind in dem Sinne als Instrument zur Förderung der Gleichstellung zu verstehen (Querschnittsthema). GM umfasst spezifische Empowermentprojekte jeweils da, wo die Diskriminierungen der Frauen besonders stark und strukturell verankert sind (spezifische Aktivitäten), und schliesslich heisst GM auch die Förderung der Gleichstellung in Betriebsstrukturen und -kultur. Das setzt aber voraus, dass jeder Interventionskontext genauestens analysiert wird, um zu verstehen, welche Kombination des GM-Ansatzes sinnvoll und zielführend für die Gleichstellung ist. Wichtig ist dabei auch die systematische Begleitung und das Evaluieren der Auswirkungen auf die Frauen und Männer, und zwar auf allen Ebenen und zusammen mit lokalen Akteuren.

Die Thematik der Gleichstellung der Geschlechter betrifft einen grossen Themenbereich: Gouvernanz, Recht, Bildung, Arbeit, Wirtschaft, Zugang zu Ressourcen, Gewalt, Gesundheit, Familie. Welche dieser Aspekte sind in Ihren Augen die wichtigsten? Und bei welchen bestehen die grössten Chancen auf einen Mentalitätswechsel?

Wo die Individuen angesprochen werden, d.h. als BürgerInnen, als lernende, arbeitende, gestaltende, kommunizierende Personen, als aktive Mitglieder der Gesellschaft, geschehen Veränderungen, die bei den Beteiligten gewisse Handlungsanpassungen bewirken . Also ist GM überall sehr wichtig. Viele Interventionen wirken aber nicht direkt auf die Individuen, sondern über Institutionen, Gesetze und Budgets. Auch hier ist GM wichtig, ja kann sogar entscheidend mehr bewirken. Wenn zum Beispiel im Gesundheitsministerium Kürzungen anstehen und vor allem dezentrale kleine Ambulatorien gestrichen werden, trifft das Frauen direkt. Sie spüren aber auch die indirekten Konsequenzen heftiger als Männer. Denn sie werden die nicht mehr öffentlichen Dienstleistungen aufgrund der Rollenzuschreibungen mehrheitlich selbst übernehmen, unbezahlt, versteht sich. Die makroökonomischen Prozesse sind zentral, wenn die Ziele der Gender-Politik ernst genommen werden. Das war auch der Grund, weshalb wir Gender Responsive Budgeting zum Thema gemacht haben, sowohl als Projektansatz als auch für die Ausgabenpolitik der DEZA.

Die DEZA unterstützt im Feld lokale Organisationen, die sich für die Gleichstellung von Mann und Frau engagieren. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit? Wird die Strategie je nach Kontext angepasst?

Wie ich bereits erwähnt habe, sind Kontextanalysen unabdingbar, denn sonst versteht man die Gründe der Geschlechterungleichheiten nicht und kann entsprechend wenig gezielt die Beziehungen zwischen Mann und Frau, auf welcher Ebene auch immer, in ein Gleichgewicht der Macht bringen. Dazu gehört auch eine Bestandsaufnahme der lokalen Akteure, NGOs, Frauengruppen, alles von sehr lokal verankerten Initiativen bis zu Universitäten. Denn hier ist Geschichte, hier sind Erfahrungen, hier ist das Knowhow - auch der Schwierigkeiten. Dies ist die eigentliche «Baseline» der Arbeit.

Haben die Programme der DEZA bereits eine tragende Rolle spielen können im Hinblick auf einen Mentalitätswandel im Bereich Gleichstellung der Geschlechter? Können Sie uns ein konkretes Beispiel beschreiben?

Das Projekt «Frauen und Karité-Butter» zeigt exemplarisch auf, wie durch ein Gemeinschaftsprojekt des Hilfswerks der evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS), Brot für alle und DEZA ein Mentalitätswandel stattgefunden hat. Primäres Ziel dieses frauenspezifischen Grassroot-Projektes war die Einkommensförderung für Frauen in der Region Nahouri (Burkina Faso). Dieses Ziel wurde über die Förderung und die Verbesserung von Qualität und Quantität der Produktion von Karité-Butter angestrebt. DieKarité-Butter ist ein vielfältig verwendetes Alltagsprodukt, dessen Herstellung jedoch sehr aufwändig ist. Insgesamt beteiligten sich 44 Frauengruppen aus 30 Dörfern, das heisst ca. 1‘300 Frauen. Ziel war die Produktivitätsteigerung mittels neuer Techniken und Technologien. Für die Ernährungssicherheit stand die Erschliessung neuer lokaler Märkte im Vordergrund. Weitere Ziele waren Capacity Building und Stärkung von Frauenvereinigungen in den Bereichen Organisation, Management und Vermarktung. Der Mehrwert sollte in der Region bleiben, und den Frauen sollte der Zugang zu Krediten ermöglicht werden. Deshalb wurde mit der lokalen Sparkasse verhandelt und ein HEKS-Garantiefonds eingerichtet. Mittels staatlicher Gelder konnten zudem Alphabetisierungsprogramme durchgeführt werden. Die als Partnerinnen fungierenden Frauengruppen schlossen sich dafür zur Dachorganisation Lougouzena zusammen. Das Projekt hat signifikant zur Erhöhung des Selbstbewusstseins und zum Empowerment der Frauen beigetragen. Sie sprachen von erfahrener Wertschätzung und äusserten sich mit Stolz zum Projekt: «Von den Einnahmen bezahle ich neben den Lebensmitteln auch das Schulgeld und die Bücher für die Kinder» sagt Mariam Idogo, Karité-Produzentin. Nicht nur wirtschaftlich, auch mit Alphabetisierung und Capacity Building gehen die Frauen gestärkt aus dem Projekt. Sie sind sich ihrer wichtigen Rolle in der Gesellschaft bewusst und haben ihre Zuständigkeitsbereiche professionalisiert. Die Frauen haben Statuten für ihre Organisationen entwickelt und geben in Netzwerken ihre Erfahrungen an andere Frauen weiter.

Und wie sieht es mit der Förderung der Gleichstellung zwischen Mann und Frau an der DEZA-Zentrale aus?

Austausch im Netzwerk ist wichtig: gegenseitiges Lernen und die regelmässige Teilnahme an den Operationskomitees, wo über neue Projekte entschieden wird. Das funktioniert alles ganz gut, und wenn wir jeweils den Gender-Fortschrittsbericht veröffentlichen, kommen die Abteilungen auf uns zu, wollen die sie betreffenden Ergebnisse und Verbesserungsvorschläge diskutieren. In der bilateralen Zusammenarbeit entstehen so spannende Diskussionen, zum einen darüber, wie Gender in der Qualitätssicherung besser verankert werden kann, zum andern, welche Kernfragen sich in den Feldern der Interventionen stellen, zum Beispiel in der ländlichen Entwicklung, in Demokratisierungsprozessen, in der Wirtschaftsförderung oder bei der Berufsbildung.

Auch wenn bei der DEZA gleich viele Frauen wie Männer arbeiten, die höheren Funktionen werden trotzdem primär von Männern eingenommen. Wie kann man dem Abhilfe schaffen?

Es braucht flexible Arbeitszeiten, Homeoffice, Teilzeitstellen… das übliche eben, was ein Betrieb für die Gleichstellung tun kann. Das hat auch eine unabhängige Evaluation gezeigt. Es gibt dennoch immer wieder Rückschläge. Schade ist, dass immer noch sehr wenig Männer die Vorteile der Teilzeitarbeit für sich erkennen. Lohnungleichheiten gibt es keine, dennoch äussern gerade jüngere Frauen, dass es für sie schwierig ist, Betreuungsaufgaben mit der Arbeit in der DEZA zu verbinden, bei Männern wird diese Problematik kaum zur Sprache gebracht. Es braucht also weiterhin viel Engagement der Institution, damit die Gleichstellung auch mittels Vereinbarkeitsmassnahmen erreicht werden kann. Vielleicht wäre es sinnvoll, für die Kadergremien vorübergehend eine Quote einzuführen. Ich selber habe eine zwiespältige Haltung zu Quoten. Aber was es bestimmt braucht, ist eine viel konsequentere Umsetzung der Genderpolitik, was Delegationen anbelangt. Hier sind wir sehr schlecht aufgestellt, nicht nur im Bereich Konfliktprävention, wo eine spezielle UNO-Resolution die Integration der Frauen in Corps, Friedensverhandlungen und -missionen fordert. Auch sonst sind Delegationen - gerade wenn es um globale Themen geht - viel zu stark männerdominiert.

Was erachten Sie als die grössten Errungenschaften der letzten 10 Jahre im Bereich Gleichstellung?

Die Qualität der Diskussionen und das Engagement der Genderkontaktpersonen aus den Büros bei den «Face2Face», die alle zwei Jahre stattfinden, zeigen, dass einiges passiert ist, auch an der Zentrale. Mich freut es zu sehen, dass auch viele Männer im Wissen um den Mehrwert einer gender-gerechten Gesellschaft sich für Gender-Fragen interessieren, sich engagieren und das Gender-Bewusstsein ihrer Mitarbeitenden fördern. Fallstudien und Evaluationen im «Feld» zeigen, dass auch da etwas passiert, wenn auch nur sporadisch, nicht sehr systemtisch und viel zu abhängig vom Management der Kooperationsbüros oder der Partnerorganisationen.

Und welches waren die grössten Enttäuschungen?

Was ich oben zu den höheren Funktionen gesagt habe, ist natürlich eine Enttäuschung. Andererseits muss ich auch sagen, dass der Druck weltweit zugenommen hat, konservative Strömungen Überwasser bekommen und es insofern ganz wichtig ist, dass feministische NGOs, seien sie lokal, regional, oder transnational organisiert, Raum haben und Ressourcen erhalten, um für die Rechte der Frauen zu kämpfen. Dies wäre eine ganz zentrale Ergänzung zu all dem, was Staaten und Uno-Einheiten im Gender Mainstreaming leisten. Es braucht Ressourcen, gutes Personal und Expertise. Das Netzwerk ist unbestritten eine geeignete Form, um das gender-Wissen zu organisieren, erweitern, kapitalisieren. Aber das Management muss auch bereit sein, sich auf dieses Wissen zu stützen, daraus zu lernen und –auch wenn es vielleicht manchmal Mut braucht, sich für Geschlechtergleichstellung einzusetzen, wenn lauter Männer tagen – die Gender-Politik als das zu vertreten, was sie ist, nämlich ein wichtiges Instrument zur Umsetzung unseres Gesetzesauftrags, zur Bekämpfung von Armut.

Worauf müsste sich Ihrer Meinung nach die Gender-Politik der DEZA in den nächsten 10 Jahren konzentrieren?

Weiterbildung, Ressourcen, thematische Schwerpunktsetzung – da wo Geschlechterdiskriminierung eklatant ist; dann die Stärkung der lokalen Expertise und die Unterstützung transnationaler Netzwerke, die sich in den globalen Debatten und Verhandlungen professionell und mit genügend Mitteln einsetzen können für eine nachhaltige und darum auch geschlechtergerechte Entwicklung.