Artikel, 10.08.2012

Tausende Syrer fliehen in den Norden Iraks

Als langjähriges Mitglied des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe SKH ist Martin Zirn immer wieder als Experte für Unterkünfte, Wasser- und Abwasserprojekte im Irak tätig. Seit Ausbruch der Krise im Nachbarland Syrien sind Zehntausende von Menschen geflüchtet, darunter auch mehrere Tausend Personen in den Norden Iraks. Der Zürcher wurde dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) von der Humanitären Hilfe des Bundes als Technischer Koordinator und Projektleiter zur Verfügung gestellt.

Wir stellen ihm ein paar Fragen zu seiner Arbeit und der Situation im Norden Iraks. Eine Bildergalerie zeigt seine Aktivitäten im Flüchtlingscamp in Domiz:  Bildergalerie.

Martin Zirn, weshalb sind Sie derzeit im Irak?

Das UNHCR beantragte bei der DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) einen Technischen Koordinator für den Einsatz im Irak. Im Moment bin ich in Erbil stationiert, das in der kurdischen Region im Norden Iraks liegt.

Was sind dort Ihre Aufgaben?

Meine Hauptaufgabe als Technischer Koordinator besteht darin, den Bau von zwei Gesundheitszentren in Ninewa und Erbil zu leiten. Ich arbeite eng mit allen Anspruchsgruppen zusammen, zu denen insbesondere die Gebervertreter, staatliche Behörden, Durchführungsorganisationen und natürlich das UNHCR gehören. Ich koordiniere die beteiligten Parteien und stelle bei der Überwachung der Arbeiten sicher, dass die vorgesehenen Anforderungen und Standards eingehalten und die Projekte rechtzeitig fertiggestellt werden.

Zudem beteilige ich mich an der Planung von Lagern für Menschen, die vor der Gewalt in Syrien fliehen. Es geht darum, dass ich technische Beratung bei der Planung der Lageplätze biete und das UNHCR und die lokalen Behörden bei allen lagerbezogenen Fragen unterstütze, damit sie den Flüchtlingsstrom aus Syrien bewältigen können.

Wie sieht ein durchschnittlicher Tag bei Ihnen aus?

Einmal pro Woche besuche ich das Projektbüro des UNHCR in Dohuk und das Lager in Domiz. Die Fahrt von Erbil aus dauert jeweils 2,5 Stunden hin und 2,5 Stunden zurück. Manchmal übernachte ich in Dohuk, damit ich mehr Zeit für Sektor-Koordinationssitzungen sowie für Treffen mit lokalen und nationalen Behörden habe, die ebenfalls an der Bewältigung der Syrien-Krise beteiligt sind. Manchmal sind Reisen nach Bagdad und an andere Orte notwendig. An gewissen Tagen habe ich in Erbil Sitzungen mit lokalen Behörden, anderen Organisationen und Arbeitskollegen anderer Einheiten.

Laut Zahlen des UNHCR (für Ende Juli 2012) sind rund 8500 Flüchtlinge aus Syrien nach Irak gekommen. Wer sind diese Leute, und weshalb flüchten sie in den Irak, in ein Land, das selber als fragiler Staat gilt?

Viele Menschen aus Syrien, vor allem Kurden, fliehen in den kurdischen Teil des Irak, der aus den Gouvernementen Dahuk, Arbil und As-Sulaimaniyya besteht. Die kurdische Region ist im Vergleich zum restlichen Irak relativ sicher. Gemäss Angaben der Regionalbehörden veranlasste die sich verschlechternde Lage in Syrien bisher rund 10'000 Personen kurdischer Herkunft, vor der Gewalt in Syrien zu fliehen und Schutz in den kurdischen Gebieten Iraks zu suchen, wo viele auch Verwandte haben. Insgesamt waren in den kurdischen Gebieten von Irak bis im Juli 9'053 syrische Flüchtlinge registriert.

Die meisten flohen in Familienverbänden, dazu kommen einige hundert Einzelpersonen. Die meisten beim UNHCR registrierten Flüchtlinge sind junge Männer, die obligatorischen Militärdienst haben leisten müssen. Sie hatten den ordentlichen Dienst absolviert, wurden aber aufgrund der Situation in Syrien nicht aus der regulären Armee entlassen. Während eines Kurzurlaubs flohen sie aus Syrien nach Irak mit ihrer Militär-Identitätskarte als einzigem Dokument.

Wichtig ist die Feststellung, dass sich durch die Gewalt in Syrien nicht nur Einheimische gezwungen sahen, ihr Land zu verlassen. Auch Irakis, die während des bewaffneten Konflikts aus ihrem Land nach Syrien geflohen waren, fliehen nun vor der Gewalt in Syrien. Viele von ihnen kehren trotz anhaltender Unsicherheit im Irak in ihre Heimat zurück. Laut UNHCR sind in den vergangenen zehn Tagen (Anfang August 2012) über 20'000 irakische Flüchtlinge in den Irak zurückgekehrt.

Das Lager Domiz im Gouvernement Dohuk gehört zu den Lagern, die Sie beaufsichtigen. Wie sieht die Lage dort aus?

Das neu eröffnete Lager Domiz beherbergt nun gegen 2000 Menschen. Es ist für die Unterbringung von 5000 Personen oder rund 900 Familien ausgelegt. Gemeinsam mit den Behörden von Dohuk planen wir derzeit ein weiteres Lager, das nochmals 5000 Personen aufnehmen könnte, falls dies notwendig wird.

Jede Familie von bis zu vier Personen lebt auf einem 84m2 grossen Platz. Auf jedem Platz steht ein Canvas-Zelt von rund 3x4m auf einem Betonfundament, umgeben von niedrigen Seitenwänden aus Betonblöcken. Diese schützen die Unterkünfte vor Wind, Regen, Schnee und Temperaturschwankungen. In Dohuk ist es im Sommer heiss, im Winter fällt Schnee bei tiefen Temperaturen.

Jeder Platz verfügt über eine Toilette und eine Dusche sowie einen Kochbereich, und alle sind an ein effizientes Abwassersystem und Klärgruben angeschlossen. Grössere Familien bekommen einen grösseren Platz und zwei Zelte.

Alle Familien erhalten einen Tank mit 1000 Liter Trinkwasser. Demnächst wird ein nachhaltiges System zur Wasserversorgung über Leitungen in Auftrag gegeben, das die Tanks regelmässig füllt. Das Elektrizitätsdepartement von Dohuk stellt die Stromversorgung für die einzelnen Plätze sicher, und fast jede Unterkunft hat einen Luftkühler und einen Kühlschrank.

Wie sieht der Alltag für die Menschen aus, die im Lager leben? Was machen die Familien den ganzen Tag?

Alle Männer und Frauen aus Syrien können sich frei bewegen. Einige qualifizierte Frauen arbeiten als Coiffeusen und stellen Süssigkeiten her. Die meisten Frauen verbringen den Tag aber damit, zu kochen und sich um die Kinder zu kümmern. Familien mit Verwandten in Domiz treffen diese als Teil ihrer gesellschaftlichen Aktivitäten. Die meisten Männer sind am Tag unterwegs. Sie suchen Arbeit in Dohuk und der Umgebung. Viele tätigen Geschäfte mit Hilfe von Verwandten – sie kaufen mit deren Unterstützung Güter des Grundbedarfs, die sie dann im Lager verkaufen.

Wie erleben die Kinder den Alltag im Lager?

Die meisten Kinder besuchen am Morgen die Schule. Nach der Schule helfen manche ihren Vätern in den Lagerläden, andere gehen auf den Spielplatz. Gewisse Kinder wollen die Schule nicht besuchen, sondern arbeiten, damit sie für ihre Lebenskosten aufkommen und ihre Familie unterstützen können. Die meisten Kinder erleben den Lageralltag als schwierig. Wegen der staubigen Umgebung gab es Fälle von Augen- und Hautproblemen, und gewisse Kinder haben psychologische Schwierigkeiten.

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Letzte Aktualisierung 13.01.2023

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