11.11.2017

Wattwil, 11.11.2017 - Speech by Federal Councillor Ignazio Cassis at the 2017 party congress of the St Gallen FDP in Toggenburg – Check against delivery

Speaker: Head of Department, Ignazio Cassis

Ignazio Cassis giving a speech in Wattwill
Ignazio Cassis giving a speech in Wattwill (St Gallen). ©Keystone

Sehr geehrte National- und Ständeräte
Sehr geehrter Herr Kantonalpräsident
Liebe Freundinnen und Freunde der FDP
Liebe Gäste

Ich freue mich sehr, meine erste öffentliche Rede als Bundesrat hier in Wattwil an der Toggenburgertagung der FDP.Die Liberalen St. Gallen halten zu können. Elf Tage nach meinem Amtsantritt als Bundesrat - und dies erst noch am 11.11.: Bei so vielen „Einsen“ ist eine Premiere nun wirklich bestens begründet.

Doch viel wichtiger als die Premiere an sich ist der Kontext: Der heutige Anlass steht für die zentralen Werte, für die sich die FDP.Die Liberalen seit langem einsetzen: Freiheit und Verantwortung. Auch als Mitglied des Bundesrates werde ich mich immer für diese Werte engagieren.

Es gehört zu den Stärken unseres Landes, dass wir bereit sind, gemeinsam Verantwortung zu tragen, bei schönem – und noch viel wichtiger – bei schlechtem Wetter! Wir haben gelernt, gemeinsam an tragfähigen Lösungen zu arbeiten, auch wenn wir unterschiedliche Meinungen vertreten, unterschiedlichen Kulturen angehören oder mehrere Sprachen sprechen.

Das nennen wir nationaler Zusammenhalt, Kohäsion, Gemeinsinn. Diese produktive Vielfalt ist nicht gottgegeben, wir müssen vielmehr dazu Sorge tragen.

Ein Beispiel hierzu ist die Grundversorgung in den audiovisuellen Medien – sprich die SRG. Bundesrat und Parlament möchten in allen Sprachregionen sicherstellen, dass alle Altersgruppen von qualitativ hochwertigen Angeboten profitieren können. Dies geschieht mittels einem solidarisch finanzierten Leistungsauftrag: Die berühmten Billag-Gebühren. Sie haben es verstanden, ich spreche von der „No Billag“ Initiative. Aus Sicht des Bundesrates würde die Abschaffung dieser Gebühren, wie sie die Volksinitiative fordert, dazu führen, dass die SRG sowie die privaten Veranstalter ihren Auftrag nicht mehr erfüllen können. Egal ob wir zufrieden sind (oder nicht) mit den SRG-Programm: das Instrument abzuschaffen wäre eine Drohung für unseren Zusammenhalt!

Diese Vielfalt der Schweiz sollten wir als Potenzial nutzen: als Chance, die Zukunft unseres Landes mitzugestalten. Es ist eine Chance für jede Bürgerin und jeden Bürger unseres Landes, für jede Region – also auch eine Chance für das Tessin und die Ostschweiz.

Meine Damen und Herren

„Was haben das Tessin und die Ostschweiz gemeinsam?“ Dieser Frage will ich nun nachgehen.

Eine Antwort habe ich bereits angedeutet: Beide Regionen leisten ihren Beitrag zu einer funktionierenden Schweiz. Selbstverständlich gilt das auch für alle anderen Regionen unseres Landes. Speziell für die Ostschweiz und das Tessin gilt aber, dass sie geografisch am Rande des Landes liegen.

Ich möchte unterstreichen, dass der „Rand“ nur im geografischen Sinne gilt. Bei einem Blick auf die Landkarte liegen die Ostschweiz und das Tessin tatsächlich „aussen“ und nicht etwa in der Mitte der Schweiz. Doch es würde der Bedeutung unserer Regionen in keiner Weise gerecht werden, wollte man mit dem Begriff „Randregion“ ausdrücken, dass die Regionen gerade noch am Rande wahrgenommen werden, ja dass man sie sogar an den Rand drängen dürfe.

Denn ist die „Randregion“ Ostschweiz nicht ein Teil der Bodenseeregion, die wiederum mitten in Europa liegt? In der Bodensee-Region ist die Ostschweiz keineswegs eine Randerscheinung, sondern bildet mit Baden-Württemberg, Bayern und Vorarlberg ein dynamisches Ganzes.

Und das Tessin? Der Kanton ist ein zentraler Abschnitt auf der Nord-Süd-Achse in Europa. Wer zum Beispiel von Deutschland nach Italien reist oder dies in umgekehrter Richtung tut, durchquert das Tessin. Der Kanton ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Norden und Süden. Vom „Rand“ also keine Spur!

Viel sinnvoller ist es deshalb, den Fokus bei der Ostschweiz und dem Tessin auf ihre Unsrigen zu richten. Grenzen können zwar die Handlungsfreiheit beschränken – die Nähe zum „Anderen“ ist aber auch Anreiz zur Kreativität! Das Tessin grenzt heute an ein Nachbarland und drei Kantone, der Kanton St. Gallen gar an drei Staaten und sieben Kantone.

Beide Regionen haben in ihrer Geschichte Grenzen in beiden Weisen kennengelernt.

Historisch gesehen sicher zunächst vor allem als Einschränkung der Freiheit. So musste sich die Bevölkerung im Tessin während drei Jahrhunderten mit den Herrschaftsansprüchen der Herzöge von Mailand auseinandersetzen. Dies durchaus im buchstäblichen Sinn.

Die Visconti-Herzöge errichteten in der Region verschiedene Festungen, mit denen sie auch ihren Anspruch auf die Zoll-Vollmachten in der Leventina geltend machten. Nach drei Jahrhunderten der Auseinandersetzung wurde das Heer 1478 in der Schlacht von Giornico von Eidgenossen und Livinen geschlagen. Knapp 20 Jahre später wurden die Gebiete des heutigen Tessins eidgenössisch – darunter auch das Blenio-Tal, dessen Bewohner bereits 1182 im „Schwur von Torre“ deutlich gemacht haben, dass sie keine Burgen von Fremdherrschern mehr dulden wollen.

Geblieben sind uns aber aus dieser Zeit die drei Burgen von Bellinzona, heute ein UNESCO-Weltkulturerbe, das uns stets an die gewaltsamen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrhunderte erinnert.

Auch die Ostschweiz hat natürlich mit der Stiftskirche St. Gallen ein weltbekanntes UNESCO Weltkulturerbe. Und auch dieses Monument erinnert uns daran, dass diese Region lange Zeit in gewalttätigen Auseinandersetzungen involviert war: die Grafenhäuser der Kyburger, Habsburger oder Toggenburger, das Heilige römische Reich, die Fürstabtei von St. Gallen bis hin zu Napoleon leisteten sich um diese Landschaft unzählige Kämpfe. Gleichzeitig zogen junge Männer aus dieser Region als Söldner in Kriege, zum Teil auch gegen das Herzogtum Mailand und anderen kriegerischen Auseinandersetzungen in Norditalien.

Diese historischen Ereignisse sind nicht bloss interessante Kapitel in Geschichtsbüchern. Sie öffnen auch einen Einblick, wie sich die Identität der Menschen in der Ostschweiz und im Tessin im Laufe der Jahrhunderte gebildet hat. Denn die Auseinandersetzung mit dem, was jenseits der Grenze liegt, schärft das Bewusstsein dafür, wer man selbst ist.

Das gilt bis heute: die Grenzlage eröffnet Chancen und gibt neue Impulse – kann die Region aber ebenso mit Herausforderungen konfrontieren. Zum Beispiel wenn sich Konkurrenzsituationen im Arbeitsmarkt ergeben. Dies zeigt sich unter anderem bei der Frage der Grenzgängerinnen und Grenzgänger. In die Ostschweiz gelangen heute rund 26‘000 Grenzgänger jeden Tag zur Arbeit, ins Tessin über 65‘000.

Diese Zahl ist im Tessin stark gestiegen, seit der Wirtschaftskrise der 1990er Jahren in Norditalien.  Immer mehr Menschen suchten in meinem Kanton Arbeit. Damit nahm der Druck auf die einheimische Bevölkerung zu. Aus diesem Grund wurde und wird im Tessin die Umsetzung der Personenfreizügigkeit weitaus kritischer begleitet als in anderen Regionen der Schweiz.

Unbestreitbar gelten auch für das Tessin die Vorteile der Personenfreizügigkeit, etwa die erleichterte Rekrutierung von Personal in einem Raum von kultureller und geografischer Nähe. Doch der Alltag wird von vielen Menschen im Kanton anders erlebt: Dass jeder vierte Arbeitsplatz im Tessin von Grenzgängern besetzt wird, schürt Unsicherheit und ruft Befürchtungen wegen Lohndumping und Verdrängungseffekten hervor.

Deutliche Zeichen der tief empfundenen Skepsis sind die Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative, die im Tessin so hoch war wie nirgends sonst in der Schweiz, oder zur Initiative „primi i nostri“ („Zuerst die Unsrigen“ oder wie Trump es sagen würde: „Ticino First“). Mit dieser Initiative wurde ein Inländervorrang durchgesetzt.

Diese Befürchtungen müssen wir ernst nehmen - wie wir auch die positiven Erfahrungen mit den Grenzgängerinnen und Grenzgängern wahrnehmen. In der Ostschweiz hat zum Beispiel die Grenzgängerfrage zu viel weniger kritischen Diskussionen geführt.

Mit der Grenzgängerfrage verbunden ist unter anderem auch die Entwicklung der Textilindustrie in der Ostschweiz und im Tessin. Sie ist ein gutes Beispiel für die Chancen und Herausforderungen, die sich einer Region durch die Grenzlage ergeben.

In der Ostschweiz hatte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Zusammenbruch der Stickerei-Industrie geführt. Dieser Exportartikel, bis dahin einer der wichtigsten Exportartikel der Schweiz, war damals zu grossen Teilen in der Ostschweiz hergestellt worden.

Nach dem Zusammenbruch musste sich die Textilindustrie neu aufstellen. Ein Prozess, der leider nicht ohne Schwierigkeiten verlief. Gerade Wattwil musste dies vor einigen Jahren in aller Härte erfahren. An anderen Orten hier konnten sich aber mit der Zeit verschiedene, im Textil-Bereich hoch innovative und spezialisierte KMUs etablieren. Für die gesamte Region darf man deshalb im Textilbereich sicher von einer Erfolgsgeschichte sprechen.

Auch im Tessin hat sich die Textilindustrie nach der grossen Krise der 70ger Jahren wieder erfunden: Die Modeindustrie hat sich neu als Fashion Logistic etabliert. Der Bereich generiert heute mehr Umsatz als die Tourismusbranche und  beschäftigt mehrere Tausend Menschen in grossen internationalen Modeunternehmen. Die Nähe zur Mode-Hauptstadt Mailand spielt sicher eine Rolle, wie auch die günstigen Rahmenbedingungen.

Liebe Gäste

Diese Beispiele zeigen, dass die Ostschweiz und das Tessin ihre Erfahrungen mit der Grenznähe gemacht haben. Diese mögen im Einzelfall unterschiedlich sein. Doch gemeinsam ist beiden Regionen, dass sie im Umgang mit den Herausforderungen und den Chancen über die nötige Wachsamkeit und Kreativität verfügen. Wir sind halt gut!

Hier wird verständlich, weshalb ich vorher gesagt habe, dass sowohl die Ostschweiz als auch das Tessin zentrale Pfeiler unseres Landes sind. Sie tragen mit ihrem Selbstverständnis, das nicht nur, aber auch von der Grenzlage geprägt ist, zu dem bei, was die Schweiz ausmacht.

Ostschweiz und Tessin gleichen sich auch in ihrer Brückenfunktion. Wenn sich Fragen ergeben, können unsere Regionen ihre direkten Kontakte mit den Nachbarstaaten nutzen und ihre Erfahrungen nach Bern weitermelden. Das schätze ich als Aussenminister sehr.

Ich möchte die heutige Toggenburgertagung gerne nutzen, um meiner Partei zu danken: Ich danke Ihnen, dass Sie sich für den Zusammenhalt in unserem Land an vorderster Stelle engagieren!

Und wenn wir uns alle für diese Einheit, diese starke Schweiz engagieren, spielt es keine grosse Rolle, wo eine Region geografisch liegt. Jede Region leistet vielmehr ihren spezifischen Beitrag zu den übergeordneten Zielen unserer Willensnation.

Eines dieser Ziele ist die Wahrung und Vertiefung der Beziehungen der Schweiz mit ihren Nachbarstaaten, eine Priorität der Aussenpolitischen Strategie des Bundesrates für die Jahre 2016-2019. Gerade hier können die Erfahrungen, die die Ostschweiz und das Tessin im direkten Kontakt mit den Nachbarstaaten machen, wichtige Impulse verleihen. Als Ergänzung zum Engagement der Schweiz in Bern, Rom, Vaduz, Berlin, Wien oder Paris.

Meine Damen und Herren

Vielleicht tönt es paradox. Aber eine Gemeinsamkeit zwischen der Ostschweiz und dem Tessin ergibt sich auch gerade dadurch – dass die beiden Regionen, trotz aller Gemeinsamkeiten, nicht identisch sind.

Ein St. Galler Schüblig ist keine Luganiga. Und ein Pinot Noir aus dem Kanton Thurgau schmeckt anders (wenn auch ebenso gut) wie der Merlot aus dem Tessin. Im Tessin fliessen die Flüsse nach Süden, in der Ostschweiz Richtung Norden. Und natürlich sind auch unsere Sprachen nicht dieselben.

Schliesslich – und das sage ich ganz ohne Wertung – besteht zur Zeit auch ein Unterschied bei der Vertretung der beiden Regionen im Bundesrat. Warum erwähne ich diese Unterschiede, wenn es doch eigentlich um die Gemeinsamkeit zwischen Ostschweiz und Tessin gehen soll?

Ganz einfach deshalb, weil „die Schweiz eine Einheit ist, geschmiedet aus sprachlicher und kultureller Vielfalt, mit der Freiheit als verbindendem Wert.“ Was ich nach meiner Wahl in den Bundesrat gesagt habe, möchte ich hier unterstreichen.

Dass die Schweiz in Ländervergleichen bezüglich Innovationskraft, Produktivität oder Lebensqualität immer wieder in den ersten Rängen auftritt, geht nicht zuletzt auf Freiheit und kulturelle Vielfalt zurück.

Denn was ist es für ein Privileg, wenn ein Land seine Kontakte mit Partnern in Italien, in Frankreich, Deutschland, Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein je in der eigenen Sprache pflegen kann?

Welche Flexibilität wird in einem Land möglich, wenn die Erfahrungen der Arbeitsmärkte im Tessin, der Deutschschweiz und der Romandie in das System der Berufsbildung einfliessen können?

Was heisst es für ein Land, wenn es gelernt hat, diese Eigenschaften als konstruktive Elemente seiner nationalen Ziele zu nutzen? Und vor allem: Um wieviel stärker wird ein Land, wenn es seine Minderheiten nicht als Minoritäten an den Rand drängt, sondern ihre Eigenständigkeiten anerkennt und ihre Qualitäten annimmt?

Die Ostschweiz und das Tessin gestalten unsere Schweiz mit. Dieser Wille spiegelt sich auch im Anspruch, dass beide Regionen im Bundesrat angemessen vertreten sein sollen. Er ist Zeichen dafür, dass die Ostschweiz und die italienisch sprachige Schweiz ihren aktiven Beitrag zur Zukunft der Schweiz leisten wollen.

Es ist dies vielleicht die wichtigste Gemeinsamkeit, die die Ostschweiz und das Tessin mit den anderen Regionen verbindet: sich miteinander für die Schweiz von morgen zu engagieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


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