Interview mit Botschafter Michael Gerber über die nachhaltige Entwicklung nach 2015

Artikel, 03.04.2013

«Die Welt braucht einen verbindlichen Referenzrahmen für nachhaltige Entwicklung»

Am 5.4.2013 beginnt der Countdown für die Millenniumsentwicklungsziele: noch 1000 Tage bis zur Frist im Jahr 2015. Was kommt danach? Mit dieser Frage beschäftigt sich die internationale Gemeinschaft bereits intensiv. Am Prozess für die Suche einer Nachfolgelösung ist auch Michael Gerber aktiv beteiligt. Als Sonderbeauftragter für globale nachhaltige Entwicklung Post-2015 erarbeitet der DEZA-Mitarbeiter die Position der Schweiz und vertritt diese in internationalen Gremien. Wir fragen ihn, welche Ziele sich die Weltgemeinschaft und die Schweiz gesetzt haben.

«Es bedeutet mir viel, die Schweiz in diesem bedeutsamen Prozess zur Definition eines neuen umfassenden Zielrahmens zu vertreten», sagt Michael Gerber. Im Oktober 2012 wurde er im Rang eines Botschafters für die Erarbeitung der schweizerischen Position und die Vertretung in den internationalen Gremien vom Bundesrat zum Sonderbeauftragten ernannt. Er wird diesen Titel bis zum Abschluss des internationalen Prozesses, voraussichtlich bis 2015, behalten. Bis dahin stehen ihm noch viele Reisen an internationale Konferenzen und Konsultationen bevor, an denen der Weg von den Millenniumentwicklungszielen (MDGs) zu Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) festgelegt wird.

Neuer Zielrahmen: eine Priorität der Schweiz
«Die Agenda für eine Nachfolge der MDGs sowie die Schaffung von SDGs wird die internationale Zusammenarbeit für die Zeit nach 2015 langfristig prägen», sagt Gerber. «Die Schaffung eines neuen globalen Zielrahmens wird aufgrund seines universellen Charakters auch die Schweiz dazu verpflichten, Ziele für die nachhaltige Entwicklung zu erreichen.»

Der Schweiz ist eine Nachfolgelösung zu den MDGs ein wichtiges Anliegen. International und in der Schweiz herrsche «ein erstaunlich grosser Konsens, dass die Welt einen übergeordneten und verbindlichen Referenzrahmen für nachhaltige Entwicklung braucht, um die globalen Herausforderungen gemeinsam bewältigen zu können», sagt Gerber.

Gerber, 1971 geboren, studierte an der Universität Bern politische Philosophie, Geschichte und Ethnologie. Nach seinem Eintritt in die DEZA 2002 absolvierte er berufsbegleitend den Nachdiplomzertifikatslehrgang für Entwicklungsländer (NADEL) an der ETH Zürich. Bis zu seiner Ernennung als Sonderbeauftragter war er Leiter der DEZA-Abteilung Analyse und Politik.

Michael Gerber, wie sollen sich die Ziele für eine Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) von den Millenniumsentwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDGs) unterscheiden?
Die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung werden sich einerseits an den MDGs anlehnen, d.h. auf den Erfahrungen mit deren Umsetzung sowie entsprechender Lehren aufbauen. Anderseits werden sie sich an der Rio-Deklaration 2012 (UNO-Konferenz über die nachhaltige Entwicklung, Rio+20) orientieren und «Entwicklung» weiter definieren als dies im MDG-Rahmen der Fall war. Während sich die MDGs vorrangig auf soziale Anliegen wie Armut, Hunger, Gesundheit, und Bildung in Entwicklungsländern konzentrierten, sollen SDGs alle drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung –also Wirtschaft, Umwelt, Soziales – ausgewogen berücksichtigen und auf alle Länder übertragen werden können.

2015 läuft die Frist für die MDGs ab, nicht alle werden bis dann erreicht werden. Kritiker werden monieren, dass man diese nun durch die SDGs ersetzt, wenn die MDGs ihr Ziel verfehlt haben. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Diese Kritik wäre dann berechtigt, wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, dass nicht erreichte Ziele und die Ursachen hierfür in Vergessenheit gerieten. Doch dieser Fall sollte nicht eintreten. Es gibt international viel Unterstützung für eine Fortsetzung oder gar Intensivierung des Engagements in Bereichen und Regionen, in denen einzelne MDGs nicht haben erreicht werden können. Die Schweiz setzt sich einerseits dafür ein, dass bis Ende 2015 so viele MDGs in so vielen Regionen wie möglich erreicht werden können, und andererseits, dass ein neuer Zielrahmen insbesondere dort Akzente setzt, wo die Umsetzung der MDGs nicht die gewünschten Resultate hervorgebracht hat.

Weshalb ist diese «Post-2015-Agenda» für die Schweiz wichtig?
Die Agenda für die Schaffung eines neuen globalen Zielrahmens wird die künftige internationale Zusammenarbeit in allen Bereichen prägen. Die Schweiz hat ihre internationale Zusammenarbeit bislang an den MDGs ausgerichtet und sich stets auch für konkrete Nachhaltigkeitsziele eingesetzt. Die Schweiz zeichnet sich durch gute Kontakte und eine wirkungsvolle Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern aus. Sie kann in diesem bedeutsamen Prozess auch wichtige Brücken zwischen Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern bilden. Und nicht zuletzt wird eine neue Zielagenda aufgrund ihres universellen Charakters auch die Schweiz dazu verpflichten, Ziele für die nachhaltige Entwicklung zu erreichen.

Welche Rolle spielt die Schweiz in der Formulierung der SDGs?
Die Schweiz hat sich von Beginn weg stark engagiert im Rahmen der Post-2015-UNO-Entwicklungsagenda, indem sie etwa den globalen Konsultationsprozess unterstützt. In 2 von 11 thematischen Konsultationen (zu Wasser und zu Bevölkerungsdynamik) hat sie gar eine aktive Koordinationsrolle übernommen. Seit der Rio-Konferenz 2012 setzt sie sich für die Konkretisierung von SDGs ein, indem sie z.B. in der offenen UNO-Arbeitsgruppe mitarbeitet, wo sie sich einen Sitz mit Deutschland und Frankreich teilt. Auf Bundesebene ist der DEZA mit Bundesratsbeschluss vom 17.10.2012 die Federführung übertragen worden, um den Prozess auf nationaler Ebene zu koordinieren und die Schweiz in den internationalen Verhandlungen zu vertreten. Zur Ausarbeitung der Schweizer Position wurde eine interdepartementale Task Force eingesetzt, in deren Rahmen auch alle interessierten Kreise in der Schweiz einbezogen werden.

Welche Ziele hat sich die Schweiz für die SDGs gesetzt?
Sie will einerseits Brückenbildnerin sein, um dazu beizutragen, dass alle Länder hinter dieser neuen Zielagenda stehen. Andererseits versucht sie, ihre eigenen Anliegen mit Bezug auf die nachhaltige Entwicklung im neuen Zielrahmen zu verankern. Sie setzt sich beispielsweise dafür ein, dass ein solcher auf den Prinzipien der Menschrechte, der Chancengleichheit und dem nachhaltigen Umgang mit den beschränkten natürlichen Ressourcen gründet. Sie will auch, dass die Reduktion von Armut und Ungerechtigkeit, der Schutz von Umwelt sowie die Überwindung von Konflikten und staatlicher Fragilität als zentrale Aspekte in die Zielagenda aufgenommen werden. Und nicht zuletzt ist es der Schweiz wichtig, dass neue Ziele handlungs- und resultatorientiert, messbar und gut kommunizierbar sind.

Welche Rolle können Schweizerinnen und Schweizer in diesem Prozess spielen?
Alle Bevölkerungskreise sind eingeladen, ihre Anliegen einzubringen und sich an der Erarbeitung der Schweizer Position zu beteiligen. Dies können sie z.B. via unsere Web-Plattform www.post2015.ch oder indem sie an den regelmässigen Konsultationsveranstaltungen teilnehmen, welche die DEZA durchführt.

Offiziell soll der politische Prozess zur Formulierung der neuen Entwicklungsziele mit einem Treffen im September 2013 im Rahmen einer UNO-Generalversammlung beginnen. Doch es scheint sich bereits jetzt schon viel zu bewegen. Was geschieht vor diesem Treffen im September?
Seit Herbst 2012 führt die UNO globale Konsultationen und Umfragen durch, z.B. über die Web-Plattform www.worldwewant2015.org. Deren Resultate werden im Bericht des von Generalsekretär Ban Ki-Moon eingesetzten Hochrangigen Panels Niederschlag finden, der Ende Mai 2013 publiziert werden soll. Dieser Bericht soll für die gesamte Agenda eine Orientierungswirkung entfalten. Zudem hat im März 2013 die offene Arbeitsgruppe zu den SDGs ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist beauftragt, bis Herbst 2014 einen konkreten Vorschlag für SDGs auszuarbeiten.

Und wie geht es nach dem Treffen im September weiter?
Hier herrscht noch viel Ungewissheit. Hauptanliegen des hochrangigen Treffens im September ist es, die Erfahrungen mit den MDGs aufzuarbeiten, Folgerungen daraus abzuleiten für die Zeit nach 2015 sowie die beiden Prozessstränge (Nachfolge MDGs und Schaffung von SDGs) zusammenzubringen, um bis 2015 zu einem umfassenden Zielrahmen zu gelangen. Wie sich der Prozess und entsprechende Verhandlungen nach 2013 gestalten werden, ist allerdings noch offen.

Mit 193 UNO-Mitgliedstaaten und oft sehr unterschiedlichen politischen Zielen und entwicklungspolitischen Ansätzen ist das Konfliktpotential ziemlich gross. Wo sehen Sie mögliche Knackpunkte im SDG-Prozess?
Tatsächlich sind schwierige Verhandlungen zu erwarten. Zunächst aufgrund des neuen Mächtegleichgewichts: Die aufstrebenden Nationen und Schwellenländer spielen heute eine Schlüsselrolle und werden ihre Anliegen, etwa in Bezug auf den Ressourcenverbrauch, hartnäckig verteidigen. Auch Entwicklungsländer treten heute (glücklicherweise!) immer selbstbewusster auf und werden auf konkrete Verpflichtungen der Industrieländer hinwirken. Weiter wird auch die Frage der Finanzierung konkreter Massnahmen für die Umsetzung der Zielagenda viel zu reden geben.

Es besteht heute jedoch ein erstaunlich grosser Konsens, dass die Welt einen übergeordneten und verbindlichen Referenzrahmen für nachhaltige Entwicklung braucht, um die globalen Herausforderungen gemeinsam bewältigen zu können. Diese Bereitschaft sollte auch als Chance gesehen werden, um die etwa in anderen Verhandlungsbereichen bestehenden Gräben zwischen Staaten überwinden zu können.