Eine vernachlässigte Zeitbombe
Psychische Krankheiten können Armut vergrössern, Leben verkürzen und die Entwicklung ganzer Länder hemmen. Dennoch wird das Thema in der Internationalen Zusammenarbeit noch immer vernachlässigt. Wieso das so ist und weshalb doch Hoffnung besteht, zeigen Erfahrungen aus drei ganz unterschiedlichen Ländern.
Eine Ärztin im Gespräch mit einer vergewaltigten Frau in einem Spitalzentrum in Butembo in der Demokratischen Republik Kongo. © Jens Grossmann/laif
Es ist Freitag Abend, kurz vor fünf, als auf einem gut gesicherten Industriegelände in der Nähe des Flughafens Mogadischu die erste Psychoedukations-Gruppe in der Geschichte Somalias zusammenkommt. Sechzehn Männer und Frauen sitzen auf bunten Kissen und Teppichen in einem grossen Kreis am Boden, zwischen ihnen Tee in Pappbechern und Schokokuchen auf Servietten. Die Schuhe haben sie ausgezogen, ihre Smartphones sind im Flugmodus, die ganze Aufmerksamkeit gilt einer Frau in ihrer Mitte, die mit ruhiger Stimme Anweisungen erteilt. «Schreibt eure grössten Sorgen auf einen Zettel», sagt Kursleiterin Rowda Olad. «Was hat euch in letzter Zeit am meisten gestresst?»
Die meisten Anwesenden sind um die dreissig, sie arbeiten für die Regierung oder internationale Organisationen, tragen modische Kleider, die Männer Jeans und Hemden, die Frauen lange Kleider und bunte Kopftücher. Sie sind hier, um etwas über sich selbst zu erfahren: Psychoedukation ist die Vermittlung von Wissen zur Bewältigung psychischer Krankheiten. «Ihr könnt hier über eure Schwierigkeiten sprechen, ohne dass euch jemand verurteilt», erklärt Rowda Olad der Gruppe. Als sie die Sorgen der Anwesenden einsammelt und anonymisiert vorlesen lässt, tun sich Abgründe der menschlichen Psyche auf.
«Nullkommanull Unterstützung» in Somalia
«Morgens schaffe ich es kaum, aus dem Haus zu gehen», liest ein Mann im karierten Hemd. «Ich habe jeden Tag Angst, getötet zu werden», liest eine Frau mit türkisem Kopftuch. Weitere Äusserungen: «Die Bomben machen mir Angst»; «Ich fürchte mich vor den Explosionen»; «Manchmal bin ich vor Angst wie gelähmt.» Bomben, Angst, Explosionen – so geht es weiter bis zum Schluss.
Als alle Sorgen vorgelesen sind, herrscht Stille. Kein Lachen mehr, kein Tuscheln, nur hin und wieder sind in der Ferne Gewehrschüsse zu hören. «Wir müssen lernen, über unsere Ängste zu reden», sagt Rowda Olad dann. «Nur so kann dieses Land je wieder zur Normalität finden.»
Somalia, so hat es die Weltgesundheitsorganisation vor einigen Jahren geschätzt, weist eine der höchsten Dichten an psychischen Krankheiten weltweit auf. Psychosen, Schizophrenie, Bipolare Störungen, Paranoia, Depressionen und Posttraumatische Belastungsstörungen – das sind die häufigsten Diagnosen im Bericht der WHO. Jede dritte Person soll davon betroffen sein. Die Ursachen reichen von Armut über Arbeitslosigkeit und Drogenmissbrauch bis hin zu Krieg, Terror und einem Leben in ständiger Angst. «Die massiven psychischen Probleme werden unsere Gesellschaft noch Jahrzehnte prägen», sagt Rowda Olad.
Das sieht auch Doktor Habeeb so. Der Mann, der eigentlich Abdirahman Ali Awale heisst, hat das grösste Psychiatrienetzwerk Somalias aus dem Boden gestampft und unzählige Fachkräfte ausgebildet. «Die psychischen Probleme haben weitreichende Konsequenzen für unsere Gesellschaft», sagt er. Das Leben der meisten Menschen in Mogadischu habe sich deutlich verbessert in den letzten Jahren, doch damit der Wiederaufbau erfolgreich sein könne, brauche es mehr Spezialisten, Therapien und Gesprächsgruppen – mehr Geld für psychiatrische Dienste im ganzen Land. Fragt man ihn nach der Unterstützung für seine Zentren durch den Staat oder durch internationale Entwicklungsgelder, lacht der Doktor nur. «Null», sagt er dann. «Exakt nullkommanull null null.»
Tatsächlich stehen die Mittel, die in die psychische Gesundheit der Somalierinnen und Somalier investiert werden, in einem krassen Missverhältnis zur Bedeutung des Problems. Laut Weltgesundheitsorganisation gab es 2017 im ganzen Land nur fünf Psychiatrien und drei ausgebildete Psychiater. «Weder für die Regierung noch für die ausländischen Geldgeber hat die psychische Gesundheit Priorität», sagt Rowda Olad. Sollte Somalia endlich zur Ruhe kommen, davon ist sie überzeugt, würden die inneren Wunden der Gesellschaft erst richtig zum Vorschein kommen. «Wir sitzen auf einer Zeitbombe. Und die meisten hier haben das noch nicht einmal gemerkt.»
Ambitionierte Sonderinitiative
Im Rahmen der neuen Sonderinitiative für psychische Gesundheit will die Weltgesundheitsorganisation bis 2023 die Grundversorgung bei psychischen Erkrankungen auf 100 Millionen Menschen in 12 Schwerpunktländern ausweiten. Ziel ist es, der gesamten Bevölkerung dieser Länder nachhaltig eine hochwertige und erschwingliche psychische Gesundheitsversorgung anzubieten. Für die vollständige Umsetzung der Initiative will die WHO 60 Millionen Dollar über fünf Jahre beschaffen.
Die massive Unterversorgung in Somalia ist ein extremes Beispiel für ein weit verbreitetes Problem. Psychische Krankheiten wie etwa Psychosen, Depressionen oder Traumata haben in allen Weltregionen schwere negative Folgen für die öffentliche Gesundheit; ein Expertengremium der Lancet-Kommission für psychische Gesundheit hat 2018 berechnet, dass der Weltwirtschaft zwischen 2011 und 2031 rund 16,1 Billionen US-Dollar verloren gehen dürften. Besonders in ärmeren Ländern tragen psychische Krankheiten zudem zur Verschlimmerung anderer Krankheiten bei, vergrössern die Armut oder reduzieren die Lebenserwartung von Betroffenen und deren Kindern. «Jeder vierte Mensch erlebt in seinem Leben eine psychische Erkrankung», sagte UNO-Generalsekretär António Guterres 2018 in einer Rede. «Dennoch bleibt das Thema weitgehend vernachlässigt.»
Das sieht auch Erika Placella, Vizechefin des Globalprogramms Gesundheit der DEZA, so. «Die globalen Investitionen in die psychische Gesundheit entsprechen in keiner Art und Weise ihrer Bedeutung», sagt sie und ordnet diese Vernachlässigung in dem grösseren Kontext der Nichtübertragbaren Krankheiten (NCD) ein. Diese beinhalten neben psychischen Erkrankungen etwa Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder chronische Atemwegserkrankungen und sind jährlich für 40,5 Millionen oder fast 70 Prozent aller Todesfälle weltweit verantwortlich.
Irritierendes Missverhältnis
Weil die Krankheiten unter anderem durch ungesunde Lebensweisen wie Tabak- und Alkoholkonsum oder körperliche Inaktivität entstehen können, wurde lange Zeit angenommen, dass es sich bei NCD um sogenannte «Wohlstandskrankheiten» handelt, die in erster Linie ein Problem der reicheren Länder sind. Tatsächlich aber betreffen laut WHO mehr als drei Viertel aller Todesfälle mit NCD-Bezug Entwicklungsländer. Zu ihrer Bekämpfung werden jedoch nur zwei Prozent aller Entwicklungsgelder im Gesundheitsbereich aufgewendet.
Dieses Missverhältnis lässt sich laut Gesundheitsforscher Luke Allen von der Universität Oxford auf mehrere Gründe zurückführen. In einem Artikel für das «Journal of Global Health Perspectives» schreibt er, dass NCDs weniger emotional aufgeladen seien als andere Krankheiten und weitgehend als nicht infektiös und sogar selbst auferlegt wahrgenommen würden. Zudem sei es schwierig, die Kosten einer Nichtintervention aufzuzeigen, während es oft lange dauert, bis sich Resultate von Interventionen einstellen. Und: Die Ursachen von NCDs sind oft so komplex, dass ihre Behandlung einen ganzheitlichen Ansatz benötigt, der sich über mehrere Fachgebiete erstrecken kann. Was das in der Praxis bedeutet, zeigt sich etwa in Irbid, im Norden Jordaniens.
Kein isoliertes Problem in Jordanien
Jordanien ist ein stabiles Land inmitten einer Konfliktregion. Im Norden und Osten liegen Syrien und Irak, im Westen die besetzten palästinensischen Gebiete und Israel. Diese Konstellation hat dazu beigetragen, dass in den letzten Jahrzehnten Hunderttausende Menschen aus den Nachbarländern in Jordanien Zuflucht gefunden haben. Die nördliche Stadt Irbid etwa, nur 20 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, wurde bald nach Kriegsbeginn zum Ballungsraum geflohener Menschen aus Syrien. Deshalb richtete die NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF) hier im Jahr 2014 eine Klinik für syrische Flüchtlinge mit nichtübertragbaren Krankheiten ein.
Nur zwei Jahre später kam eine eigene Abteilung für psychische Gesundheit hinzu. «Wir haben bald gemerkt, dass es bei unseren Patienten auch ein Bedürfnis nach psychologischer und psychiatrischer Unterstützung gibt», sagt Ali Abu Saqer, der das Pflegeteam in der MSF-Klinik leitet. «Deshalb bieten wir heute ein umfassendes Behandlungsangebot an.» Konkret heisst das: Patientinnen und Patienten kommen wegen NCDs wie zum Beispiel Herzerkrankungen oder Diabetes in die Klinik und werden dann je nach Bedürfnis an die Abteilung für psychische Gesundheit überwiesen. Hier erhalten sie in Einzel- oder Gruppenberatungen psychosoziale Unterstützung in vertraulichem Rahmen.
«Die Beschwerden sind oft untrennbar miteinander verbunden», sagt Ali Abu Saqer. Sein Kollege Ahmed Bani Mufarij, der in der MSF-Klinik Beratungsgespräche mit Patientinnen und Patienten führt, hat schon oft erlebt, dass etwa der Bluthochdruck auf Angstzustände zurückzuführen ist. «Die Ursache ist also psychisch, nicht physisch», sagt er. In den Beratungsgesprächen zeige er Betroffenen auf, wie sie über ihre Schwierigkeiten sprechen und mit ihnen umgehen können. Ist eine psychiatrische Abklärung nötig, werden die Patientinnen und Patienten an Partnerinstitutionen überwiesen.
Es trifft nicht nur Flüchtlinge
Wenn auch in einem anderen Ausmass als in Somalia, offenbart sich in Jordanien ein Missverhältnis zwischen Nachfrage und Angebot. Obschon ein Viertel der Bevölkerung psychosoziale Unterstützung benötigt, kommen auf 100'000 Einwohner gerade mal zwei Psychiater und 0,27 Psychologen. In und um Irbid, der drittgrössten Stadt des Landes, empfängt ein einziger staatlich angestellter Psychiater Patienten. «Daneben gibt es private Anbieter», sagt MSF-Mitarbeiter Ahmed Bani Mufarij. «Wegen der hohen Kosten ist das für unsere Patienten aber keine Option.» Weil sich auch viele Einheimische keine teure Behandlung leisten können, werden in der MSF-Klinik zusätzlich sozial schwächere Jordanierinnen und Jordanier behandelt.
Ein Grossteil der Entwicklungsgelder, die heute in die psychische Gesundheit investiert werden, fliesst in den humanitären Bereich und in Konfliktländer. Die Problematik jedoch betrifft genauso ärmere Länder ohne Konflikte und solche, die Konflikte hinter sich haben. Konkret: Nicht nur geflohene Syrerinnen und Syrer kämpfen mit psychischen Problemen, sondern auch Jordanierinnen und Jordanier, die nie einen Krieg erlebt haben. «Natürlich kommen bei den Menschen aus Syrien zusätzliche Stressoren wie der Krieg oder stärkere finanzielle Probleme dazu», sagt MSF-Mitarbeiter Ahmed Bani Mufarij. «Was ihre Probleme angeht, unterscheiden sich die beiden Bevölkerungsgruppen aber nicht so stark.»
Ebenfalls kaum Unterschiede gibt es beim Thema Stigmatisierung. «Psychische Krankheiten werden in allen Gesellschaften stigmatisiert, auch bei uns», sagt der jordanische MSF-Mitarbeiter Ali Abu Saqer. Vor allem in ländlicheren Gegenden sei es üblich, dass Personen mit schweren psychischen Problemen als Verrückte wahrgenommen würden. Das erschwere nicht nur der betroffenen Person das Leben, sondern auch deren Familie. «Wenn mich die Leute als verrückt ansehen, wird niemand meine Tochter heiraten wollen», so der Leiter des Pflegeteams. Diese Wahrnehmung führe dazu, dass Betroffene Angst davor hätten, sich in Behandlung zu begeben.
Abnehmende Stigmatisierung
Zumindest in den städtischen Gebieten Jordaniens habe diese Stigmatisierung abgenommen, erklärt der MSF-Mitarbeiter. Und auch bei den eigenen Patientinnen und Patienten erkenne er ein Umdenken. «Menschen, die bei der ersten Sitzung höchst skeptisch sind, öffnen sich bereits in der zweiten oder dritten völlig», sagt Ali Abu Saqer. «Und wenn unsere Patienten realisieren, dass wir ihnen helfen können, erfahren das auch ihre Bekannten und Verwandten.»
Auch Erika Placella vom Globalprogramm Gesundheit der DEZA sieht trotz aller Kritik viel Positives beim Rückblick auf die letzten zehn Jahre. Auf gesellschaftlicher Ebene sei in vielen Ländern das Stigma der psychischen Erkrankungen kleiner und die Akzeptanz grösser geworden. Im medizinischen Bereich habe man grosse Fortschritte gemacht, verstehe biologische Ursachen sowie Risikofaktoren besser und verfüge über weiterentwickelte Behandlungsmöglichkeiten. Und auch auf Ebene der globalen Politik sei einiges erreicht worden. «Man könnte sagen, dass es die psychische Gesundheit auf die Tagesordnung der internationalen Gemeinschaft geschafft hat», sagt Erika Placella.
So hat etwa die WHO die psychische Gesundheit als Priorität festgelegt und will mit einer Sonderinitiative bis 2023 die flächendeckende Gesundheitsversorgung im Bereich psychische Gesundheit in zwölf Schwerpunktländern realisieren. Zu dieser Initiative trägt auch die Schweiz bei. Und ein von der DEZA unterstütztes Pionierprojekt zeigt, wohin der Weg führen könnte.
Geschlechterbezogene Gewalt
Ein wichtiger Teilaspekt der psychischen Gesundheit ist die Thematik der geschlechtsbezogenen Gewalt. Mehr als ein Drittel aller Frauen weltweit haben in ihrem Leben physische oder sexuelle Gewalt erlebt, was dramatische Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben kann. In Jordanien unterstützt die DEZA deshalb ein Projekt der Hilfsorganisation IRC, das sich dem Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt verschrieben hat. Ziel ist es, die Widerstandsfähigkeit der Betroffenen zu stärken. Frauen und Mädchen, die unter Gewalt leiden oder litten, erhalten individuelle Beratung, Rechtsbeistand oder finanzielle Unterstützung. Wenn nötig und möglich, wird eine Familienberatung oder Mediation durchgeführt.
Pionierprojekt in Bosnien
Vor dem Krieg gab es in Bosnien und Herzegowina kein einziges Zentrum für psychische Gesundheit – heute sind es 72 im ganzen Land. Diese Entwicklung ist das Resultat einer 1996 begonnenen Reform im Bereich der psychischen Gesundheit, die seit fast zehn Jahren von der Schweiz unterstützt wird. Während acht Jahren haben zudem die Kantone Bern, Jura, Genf und Fribourg die Reform mit Expertise unterstützt.
Die Stigmatisierung psychisch kranker Personen konnte reduziert werden, das Behandlungsangebot in der Grundversorgung wurde ausgebaut sowie dezentralisiert, und für die Menschen wurde es einfacher, nahe gelegene Hilfe zu erhalten. Zudem wird das neue System nicht von externen Geldgebern getragen, sondern nachhaltig vom staatlichen Budget. Auch wenn längst nicht alles perfekt ist: Innert zwei Jahrzehnten hat sich Bosnien und Herzegowina in Sachen psychischer Gesundheit vom Entwicklungsland zum Vorbild gewandelt. Wie war das möglich?
«Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort», sagt Maja Zaric, die den Prozess als Programmverantwortliche und Beraterin für Entwicklungspolitik auf der Schweizer Botschaft in Sarajewo eng begleitet hat. Erstens sei die Reform nicht von externen Geldgebern initiiert worden, sondern vom Land selbst. Die Behörden hatten also von Beginn weg ein starkes Interesse am Gelingen der Reform. Das wiederum hat stark mit dem zweiten Erfolgsfaktor zu tun: den äusseren Bedingungen. Als die Reformen eingeleitet wurden, hatte Bosnien und Herzegowina einen zerstörerischen Krieg hinter sich, es gab viele psychisch angeschlagene Kriegsveteranen, auseinandergerissene Familien und Nachkriegstraumata. «Die Behörden realisierten, dass das bestehende Gesundheitssystem mit diesen Herausforderungen nicht zurechtkommen wird», sagt Maja Zaric. Daraus entstand das Ziel, die Hospitalisierungen von Menschen mit psychischen Problemen zu reduzieren und die grossen psychiatrischen Anstalten durch kleinere, gemeindebasierte Institutionen zu ersetzen.
Multidisziplinäre Teams
Einen dritten Erfolgsfaktor sieht DEZA-Mitarbeiterin Maja Zaric in der Kombination von ausländischem Fachwissen und bestehenden Kapazitäten im Land. Die Neuerungen seien gemeinsam entstanden und nicht von externen Akteuren implementiert und dann übergeben worden. Zudem habe man von Beginn weg versucht, ein komplementäres Angebot an Dienstleistungen für verschiedenste psychische Probleme zu entwickeln. So bieten multidisziplinäre Teams bestehend aus Psychiaterinnen, Psychologen, Pflegenden und Sozialarbeitenden qualitativ hochstehende Therapieformen an und führen in den Gemeinden Sensibilisierungskampagnen durch.
Als letzten Erfolgsfaktor erwähnt Maja Zaric die rechtliche Verankerung der Reform. Bei der Entwicklung neuer Angebote sei stets darauf geachtet worden, dass diese auch von entsprechenden Gesetzesänderungen abgedeckt werden. So sind nun etwa Patientenrechte, die staatliche Finanzierung oder die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung in der Gesetzgebung verankert. Und: Sogar Personen ohne Versicherung haben das Recht, in den Zentren für psychische Gesundheit behandelt zu werden. «Menschen mit psychischen Problemen müssen jetzt nicht mehr Wochen oder Monate in einer psychiatrischen Klinik verbringen», sagt Maja Zaric. Die Heilungschancen hätten sich verbessert und die Kosten für die psychische Gesundheitsversorgung seien gesunken. «Natürlich gibt es noch Verbesserungspotenzial», so die Mitarbeiterin der Schweizer Botschaft. Das Land habe aber riesige Fortschritte gemacht, und die Reform werde weit über die Grenzen hinaus als Vorbild wahrgenommen. Sie zeigt, was bei der Förderung der psychischen Gesundheit möglich wäre.
Lokale Pionierarbeit, globale Fürsprache
Als eines von wenigen Ländern engagiert sich die Schweiz gleichzeitig mit konkreten Projekten vor Ort für die psychische Gesundheit und im Politikdialog auf globaler Ebene. «Diese Kombination ist unsere grosse Stärke», sagt Erika Placella, Vizechefin des Globalprogramms Gesundheit der DEZA. «Wir zeigen auf lokaler Ebene, was funktioniert, und können dadurch glaubwürdig mehr Unterstützung für das Anliegen der psychischen Gesundheit fordern.» Gehe es um Themen wie Suizidprävention, Betreuungsmodelle oder Reintegration könne die Schweiz eine grosse Expertise einbringen.
Das Hauptengagement der DEZA im Bereich der psychischen Gesundheit liegt auf der Förderung von Reformen im Bereich der psychischen Gesundheit. Neben der Psychiatriereform in Bosnien und Herzegowina (siehe Haupttext) unterstützt die Schweiz seit 2013 die Republik Moldau und seit 2018 die Ukraine bei der Umgestaltung ihrer Gesundheitssysteme. Ziel ist ein besserer Umgang mit psychischen Krankheiten – bei der Prävention aber auch bei den Behandlungsmöglichkeiten und dem Zugang zu diesen.
Basierend auf dieser Pionierarbeit setzt sich die Schweiz auf globaler Ebene für eine bessere Unterstützung der psychischen Gesundheit ein. «Wir betreiben eine Art Gesundheitsdiplomatie», sagt Erika Placella. An globalen und regionalen Foren lege man dar, wieso das Thema wichtig ist und wieso auch andere Geldgeber in die psychische Gesundheit ärmerer Länder investieren sollten. Unter anderem ist so in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation die «Sonderinitiative für psychische Gesundheit» entstanden, welche im Oktober 2019 am WHO Mental Health Forum in Genf lanciert wurde. Das Engagement der Schweiz stehe für Qualität und ziehe so andere Geberländer an, sagt Erika Placella. «Obwohl wir klein sind, können wir mittels Hebelwirkung unsere Wirkung vergrössern.»
Daneben unterstützt die DEZA in verschiedenen Ländern Projekte, die zur Verbesserung der psychischen Gesundheit beitragen – etwa in Niger, Burkina Faso, Bangladesch oder Kambodscha. In der Region der Grossen Seen (Ruanda, Burundi und Demokratische Republik Kongo) unterstützt die Schweiz seit 2010 Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt mit psychologischer, medizinischer und sozialer Hilfe.
Zudem versucht die DEZA vermehrt, themenübergreifend psychosoziale Aspekte in ihre Arbeit einfliessen zu lassen. Durch die Beschäftigung mit den persönlichen Hintergründen der Zielgruppen sollen Entwicklungshindernisse erkannt und überwunden werden, was wiederum zu nachhaltigeren Resultaten führt. In diesem Sinn hat die DEZA in Honduras ein Pionierprojekt zur Förderung des Kakaoanbaus lanciert, bei dessen Ausgestaltung auch die psychosoziale Situation der Betroffenen, ihre Ängste und Geschichten, miteinbezogen wurden.
Artikel von Christian Zeier, erschienen in Eine Welt 02/2020