„Die Schweiz gehört zu den progressivsten Ländern“

Artikel, 16.11.2017

Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wurde 2015 von der internationalen Staatengemeinschaft verabschiedet und ist seit 2016 in Kraft. Wie weit ist die Umsetzung bereits? Was sind die nächsten Schritte? Fragen an Botschafter Michael Gerber, Sonderbeauftragter für globale nachhaltige Entwicklung.

Porträt von Michael Gerber
Botschafter Michael Gerber ©EDA

Michael Gerber, seit 2016 ist die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung gültig – alle Länder sollen sich engagieren, damit die Ziele erreicht werden. Wo stehen wir im Moment? 

Auf internationaler Ebene gibt es viel Bewegung. Mehr als 65 Länder, darunter die Schweiz, haben der UNO gegenüber bereits Bericht erstattet, welche Massnahmen sie ergriffen haben, um die Agenda 2030 umzusetzen. In zahlreichen Sektoren wird an konkreten Lösungen gearbeitet, und neue Partnerschaften entstehen. Auch das politische Momentum scheint weiterhin gross zu sein. In der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft spürt man ebenfalls eine positive Aufnahme der 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs) sowie generell eine zunehmende Mobilisierung nicht-staatlicher Akteure. 

Kann man schon sagen, wo die Schweiz im internationalen Vergleich steht? 

Die Schweiz gehört nach wie vor zu den progressivsten Ländern in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung. Die aktive Rolle, die sie bereits in den Verhandlungen der Agenda 2030 einnahm (2013-2015), hat sie beibehalten und sich auf internationaler Ebene unter den Vorreiter-Staaten zur Umsetzung etabliert. Seit der Verabschiedung der Agenda 2030 hat sich der Bund die Zeit für eine Bestandesaufnahme und die sorgfältige Planung der Umsetzung genommen. Im Hinblick darauf stehen im Frühling 2018 wichtige Entscheide des Bundesrats an. 

Geht es im Moment demnach vor allem um den Schweizer Beitrag, und weniger um die Entwicklungszusammenarbeit? 

Nicht um das eine mehr als um das andere. Im Grundsatz geht es um eine kohärente Abstimmung sämtlicher Beiträge der Schweiz zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) – sowohl national als auch international. In der Tat ist die Agenda 2030 nicht in erster Linie für die Entwicklungszusammenarbeit bestimmt. Sie ist universell gültig und muss somit in allen Ländern und in enger Zusammenarbeit mit nicht-staatlichen Akteuren umgesetzt werden. Für die internationale Zusammenarbeit wird es Anfang 2018 ein sogenanntes Mainstreaming-Konzept geben, um die Schweizer Partnerländer künftig noch gezielter bei der Erreichung der Ziele zu unterstützen. Es stimmt aber, dass der Schweizer Beitrag anhand von Indikatoren gemessen wird, die sich grösstenteils an nationalen Massnahmen orientieren. 

In der Schweiz hat der Bund eine Online-Konsultation zu den SDGs durchgeführt. Weshalb wurde konsultiert, die Agenda steht ja? 

Die Online-Konsultation hatte zum Zweck, die Resultate aus der erwähnten Bestandesaufnahme des Bundes der öffentlichen Meinung gegenüberzustellen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten Gelegenheit, jedes einzelne der 169 Unterziele der SDGs zu kommentieren und dabei auch eigene Beiträge und Vorschläge bekanntzumachen. Dadurch haben wir ein umfassendes Bild erhalten, wo die Schweiz in Bezug auf die Agenda 2030 steht. Meines Wissens hat sich kein anderes Land eine derart fundierte und partizipativ erarbeite Basis geschaffen, worauf es seine Umsetzungsstrategie aufbauen kann. 

Was sind denn die Ergebnisse der Konsultation, kann man Trends ausmachen? 

Die detaillierte Auswertung ist noch im Gange, aber Trends zeigen bereits, wo die grössten Herausforderungen und Opportunitäten liegen für die Schweiz: So bestätigt beispielsweise die bundesexterne Einschätzung, dass beim Ziel zu Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum (SDG 12)  viel Potenzial für ein erhöhtes Engagement vorhanden ist. Eine erste oberflächliche Analyse bestätigt aber gleichzeitig, dass die allermeisten Ziele hohe Relevanz haben für die Schweizer Innen- und Aussenpolitik. Auf Grundlage dieser Konsultation hat der Bund, in enger Zusammenarbeit mit der Begleitgruppe bundesexterner Akteure, neun für die Schweiz besonders relevante Themenbereiche identifiziert und an der letzten Dialog-2030-Veranstaltung mit den 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmern mögliche partnerschaftliche Beiträge diskutiert.

Begleitgruppe bundesexterner Akteure
Dialog-2030-Veranstaltung

Wie geht es jetzt weiter? Die Schweiz liefert ja im Sommer 2018 einen Bericht zur Umsetzung der Ziele.

In der Tat wird die Schweiz im Sommer 2018 an der UNO in New York ihren ersten umfassenden Umsetzungsbericht präsentieren. Darin werden die Resultate der Bestandesaufnahme abgebildet sowie die Schwerpunkte der Schweiz bei der Umsetzung der Agenda 2030 aufgezeigt. Darüber hinaus sollen auch Beispiele von Partnerschaften und Aktivitäten aus allen Gesellschaftsbereichen der Schweiz abgebildet werden. Dieser Länderbericht wird auf Bundesebene unter Mitarbeit zahlreicher Ämter sowie der Begleitgruppe erstellt. Der Bundesrat wird im Frühling 2018 darüber befinden. 

Und wie sieht die Situation für die ganze Welt aus? 

Die weltweite Situation hat sich in den zwei Jahren seit der Verabschiedung der Agenda 2030 (erwartungsgemäss) noch nicht gross verbessert. Es gibt in vielen Bereichen nach wie vor grossen Handlungsbedarf, etwa in Bezug auf die Reduktion von Ungleichheiten, Armut und Hunger, bei der Geschlechtergleichstellung oder beim Umgang mit natürlichen Ressourcen. Ausserdem verhindern politische Konflikte in verschiedenen Weltregionen eine nachhaltige Entwicklung. Namhafte Experten mahnen immer wieder, wie dringend Massnahmen gegen die Klimaerwärmung seien. Andererseits zeigt die Erfahrung, dass es stets ein paar Jahre braucht, bis globale Normen und Ziele umgesetzt werden. In Anbetracht der zunehmenden Mobilisierung für die SDGs kann man also dennoch vorsichtig optimistisch bleiben. 

Ist es also realistisch, dass wir die Ziele der Agenda 2030 erreichen? 

Ich würde sagen ja, realistisch ist es. Aber es braucht mehr als die theoretische Realisierbarkeit. Ohne politischen Willen zur Transformation sowie konkrete Massnahmen auf allen Ebenen und in allen Ländern wird es nicht möglich sein, die Ziele zu erreichen. Doch auch wenn einige der Ziele bis 2030 nicht realisiert werden sollten, werden sie ein wichtiger Kompass bleiben, um an diesem Generationenprojekt weiterzuarbeiten und eine lebenswerte Zukunft der Menschen in einer intakten Umwelt sicherzustellen.