Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren
Home alone?
Der Hollywood-Klassiker gehört zur Weihnachtszeit wie das Fondue Chinoise: Der achtjährige Kevin ist allein zuhause und muss sich mit List und Mut verteidigen.
Entspricht das nicht auch ein bisschen unserem europapolitischen Selbstbild?
Oder, wenn wir schon beim verfilmten Widerstand sind: Die Start-Sequenz bei Asterix: Das Dorf, umzingelt von römischen Legionen.
Aber die Schweiz ist kein gallisches Dorf: In der EU hat es zwar Römer, aber die spinnen nicht. Wir werden von ihnen nicht belagert und wir haben keinen Zaubertrank.
Es gibt Wirtschaftsführer, die Europa links liegen lassen. In den USA, China oder Indien spiele die Musik, sagen sie. Für die Schweiz als Land ist das nicht nur kurzsichtig, sondern absurd. Wir sind hier eingebettet, vernetzt, daheim.
Wenden wir uns den Fakten zu: 15 Kantone grenzen direkt an die EU. Mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung lebt in einer Grenzregion. Genf und Basel, zwei Wertschöpfungsmotoren, sind über die Landesgrenze hinweg mit der EU zusammengewachsen. Über 800'000 Menschen mit Schweizer Pass leben in Europa und 1,5 Millionen mit EU-Pass bei uns. Das sind zwei Drittel der ausländischen Wohnbevölkerung. Zum Vergleich: aus Nordamerika stammen knapp 4, aus Asien 8 und aus Afrika 5 Prozent.
Die Lage und die gemeinsamen Grenzen verändern unser Verhältnis fundamental:
- Mit den USA, China und Co. teilen wir kein Stromnetz. In Europa hängen wir mittendrin. Wir sind eine zentrale Schaltstelle einer Infrastruktur, die 30 Länder und 530 Millionen Menschen mit lebenswichtiger Energie versorgt.
- Mit den USA, China und Co. teilen wir kein Strassen- und Schienennetz. Mit unseren Nachbarn teilen wir 400 Strassen- und 45 Schienenübergänge. Und da sind das 8er- und das 3er-Drämmli noch nicht mitgerechnet. Die SBB bietet Reisen in 120 Städte ausserhalb der Schweiz an. 12 Millionen Züge passieren jährlich die Grenze und über 2,2 Millionen Menschen überqueren sie pro Tag - ich wiederhole: pro Tag! - die Schweizer Grenze.
- Aus den USA, China und Co. kommen kaum Grenzgänger. Fast 390'000 Arbeitskräfte pendeln aus der EU in die Schweiz. Hinzukommt über eine Viertelmillion Entsandte, die kurzzeitig kommen, ihre Arbeit machen und wieder gehen. Ohne diese Menschen funktionieren unsere Wirtschaft und unser Gesundheitssystem nicht. Wenn Covid überhaupt einen Nutzen hatte, dann den: Dass wir das jetzt wissen.
- Die EU ist und bleibt mit Abstand unsere wichtigste Kundin. Für unsere KMU genauso, wie für die Grosskonzerne. 60 Prozent unseres Handelsvolumens wickeln wir mit der EU ab und 70 Prozent unserer Importe kommen aus der EU. Selbst wenn die EU-Wirtschaft nicht mehr wachsen würde und die Märkte USA und China ihr Wachstum fortsetzen, ist die EU 2050 immer noch unsere wichtigste Partnerin.
Ich weiss, das waren jetzt viele Zahlen. Aber diese Zahlen sind wichtig. Sie zeigen die besondere Bedeutung der bilateralen Beziehungen mit der EU. Wir können die Schweiz nicht einfach woanders «hinzügeln». Wir sind eigebettet, mitten in einer nachbarschaftlichen Schicksalsgemeinschaft.
Und, das muss man auch mal sagen: Wir könnten deutlich schlechtere Nachbarn haben! Denken Sie nur an die Ukraine. Die Europäische Einigung hat unserem Kontinent 70 Jahre Frieden und Stabilität gebracht. Ein Grund, dankbar zu sein. Europa ist mehr als die EU. Europa ist auch eine Wertegemeinschaft, die mit Russlands Angriffskrieg zusammengerückt ist. Wir teilen und uns verbindet viel: Sprache, Kultur, Freundschaften. Wir spüren, dass wir dazugehören.
Kurz: Es gibt kaum jemanden, der ein grösseres Interesse an einem geeinten, starken und prosperierenden Europa hat, als wir. Angesichts der geopolitischen Lage umso mehr.
Liebe Europäerinnen und Europäer
Zu oft stellen wir das Trennende über das Verbindende:
- Europa ist eine grosse Schweiz. 27 souveräne Länder, die ihre Eigenheiten und Differenzen pflegen, aber in ihrer Vielfalt doch verbunden sind. Sie haben sich nicht aus Altruismus oder Naivität zusammengetan, sondern aufgrund handfester Interessen und weil sie sich gesagt haben «nie wieder!» - nie wieder Krieg.
- Man kann es auch umkehren: Die Schweiz ist ein kleines Europa. 26 Kantone, die sich zusammengeschlossen haben, um handlungsfähiger zu werden. Sie haben auf den ersten Blick Souveränität eingebüsst, aber langfristig gewonnen. Sie haben das nicht aus Altruismus oder Naivität getan, sondern aufgrund handfester Interessen.
Nicht Abschottung und Isolation haben die Schweiz über die Jahrhunderte geprägt und stark gemacht, sondern geschicktes Verhandeln und pragmatische Bündnisse mit ihren Nachbarn.
Auch bei den aktuellen Verhandlungen mit der EU geht es nicht um Altruismus oder Naivität. Und es geht schon gar nicht darum, die Schweizer Souveränität aufzugeben. Bei den Bilateralen ging es schon immer genau um das Gegenteil: Die Direkte Demokratie, den Service public, unser Lohnniveau und unser Sozialsystem zu schützen. Darum geht es auch jetzt.
Welche Ziele der Bundesrat in den Verhandlungen konkret verfolgt, hat er im Verhandlungsmandat festgehalten: Wir wollen sicherstellen, dass unsere Unternehmen weiterhin hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt haben, dass wir die Fachkräfte finden, die wir brauchen, dass Rechtssicherheit herrscht und dass wir neue bilaterale Abkommen abschliessen können.
Geregelte Beziehungen zur EU sind für uns wirtschaftlich enorm wichtig. Noch haben wir den Zugang zum EU-Binnenmarkt, aber hindernisfrei ist er nur noch beschränkt. Die Regeln entwickeln sich laufend weiter, wir aber können die Marktzugangsabkommen nicht mehr regelmässig aufdatieren.
Die EU knüpft den hindernisfreien Zugang daran, dass wir Änderungen der Binnenmarkt-Regeln grundsätzlich auch akzeptieren. Das ist aber keine automatische Rechtsübernahme. Sonden eine dynamische und brächte auch Vorteile: Unsere Unternehmen hätten wieder ungehinderten Marktzugang und könnten darauf zählen, dass das so bleibt, weil die Abkommen immer auf dem neusten Stand wären. Wir könnten über das «Decision shaping» mitreden und der Weg für neue Abkommen wäre offen.
Ich weiss: Viele denken beim Binnenmarkt vor allem an die Personenfreizügigkeit. Und nicht wenige stellen sie mit Blick auf die anhaltend hohe Zuwanderung in Frage. Der Bundesrat nimmt das sehr ernst, auch in diesen Verhandlungen: Für uns ist wichtig, dass die Zuwanderung aus den Ländern der EU arbeitsmarktorientiert bleibt. Wer kommt, um von der Sozialhilfe zu leben, soll das Land wieder verlassen müssen. Auch hat der Bundesrat immer betont, dass das Lohnschutzniveau nicht geschwächt werden darf.
Und ja der Bundesrat ist bestrebt - Zitat -, «die Mechanismen [...] zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu konkretisieren». Über die Schutzklausel wird viel spekuliert. Ich kann einfach sagen: Die Verhandlungen laufen, bis sie abgeschlossen sind.
Der Bundesrat arbeitet auch an innenpolitischen Massnahmen. Klar ist: Trotz Skepsis sind wir auf Zuwanderung angewiesen. Der Arbeitskräftemangel ist in vielen Branchen bereits Realität und wird sich weiter zuspitzen.
Ein wichtiger Grund für eine Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs ist für mich auch die Rechtssicherheit. Verbindliche Regeln, auf die man sich auch in ausserordentlichen Situationen verlassen kann, sind für beide Partner wichtig.
Sie erinnern sich daran, wie die EU der Schweizer Börse die Äquivalenz entzogen, die Schweiz teilweise von Horizon Europe ausgeschlossen und in der Schweiz zugelassene Medtech-Produkte nicht mehr anerkannt hat. Warum konnten wir diese einseitigen Massnahmen nicht verhindern? Weil wir uns mit der EU bis dato nicht auf ein Vertragspaket und auf verbindliche Spielregeln geeinigt haben.
Meine Damen und Herren
Die Verhandlungen sind intensiv und werden von beiden Seiten engagiert geführt. Ich bin optimistisch, denn - das wird oft übersehen - eine Einigung ist im Interesse beider Seiten.
Wie geht es weiter? Sobald die paraphierten Texte vorliegen, wird der Bundesrat die Ergebnisse beurteilen und über die Unterzeichnung entscheiden. Dann ginge die Vorlage ans Parlament und es gäbe höchstwahrscheinlich eine Volksabstimmung.
Ich freue mich auf diese wichtige Diskussion.
Daheim sind wir in Europa definitiv. Aber nicht allein. Und für gute Nachbarschaft braucht es immer zwei. Es liegt an uns, welchen Beitrag wir leisten wollen - zu einem Starken Europa und für eine starke Schweiz.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.