Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kathrin
Frau Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments
Herr Regierungspräsident, Herr Staatssekretär
Sehr geehrte Damen und Herren
Das letzte Mal war ich Mitte August in der Regio Basiliensis unterwegs. Der Anlass war ein bisschen volkstümlicher: Ich war in Oberwil im Donnschtig-Jass. Natürlich kamen auch die 39% US-Zölle aufs Tapet respektive auf den Jass-Teppich. Man weiss ja gerade nicht so genau, was gespielt wird und nach welchen Regeln.
In Washington macht offenbar einer Obenabe. Im Moment ist es ein Differenzler oder ein Slalom. Trump trumpft auf, wir sind Bieter. Und medial ist es ein Schieber: Die Schuld wird hin- und hergeschoben. Wie auch immer: Wir werden das noch ausjassen und lassen uns nicht in die Karten blicken. Und wir «schnurre» auch nicht, welche Trümpfe wir noch im Ärmel haben.
Es ist schön, heute wieder in der Heimat zu sein. Und das meine ich nicht nur geographisch: Die Arbeit in der Regio Basiliensis und als Präsident der Oberrheinkonferenz waren für mich prägend, so etwas wie ein politisches Aha-Erlebnis. Ich freue mich, mit Ihnen über das zu diskutieren, was uns verbindet: Europa.
Meine Damen und Herren
Verlässlichkeit, das ist unsere Währung, hat die Bundespräsidentin am 1. August gesagt. Die eigenen Interessen stets im Auge haben, gut verhandeln, kluge Verträge abschliessen, sich auf die Welt rundherum einstellen – das verstanden seinerzeit schon die alten Eidgenossen. Sie waren eingebettet, vernetzt, integriert. Mitten in einem unruhigen und kriegerischen Kontinent haben sie sich und ihre Interessen behauptet. Nicht im Alleingang, sondern in Bündnissen und mit Verbündeten. Lange Zeit – formell bis 1648 – war die Eidgenossenschaft Teil des Heiligen Römischen Reichs und ist damit gut gefahren.
Die Schweiz hat in ihrer Geschichte immer wieder wichtige Verträge mit ihren Nachbarländern abgeschlossen. Dazu gehören auch die Bilateralen I und II.
Und noch etwas wussten schon die alten Eidgenossen genau: Verträge, Bündnisse und gemeinsam festgelegte Regeln sind nichts wert, wenn sich einer nicht daranhält. Darum halten wir Schweizerinnen und Schweizer uns an Abmachungen und Regeln – nicht nur beim Jass. Das ist Teil unserer Identität. Und wir erwarten das auch von den anderen. Als kleines Land sind wir darauf angewiesen, dass sich auch die Grossen an Regeln halten:
- Wenn Russland sein demokratisches Nachbarland brutal überfällt, gibt es nichts zur relativieren. Selten ist so klar, wer Opfer und wer Aggressor ist. Und wenn sich Russland nicht um das Völkerrecht schert, müssen bei uns alle Alarmglocken läuten!
- Wenn Israel nach dem brutalen Terror-Überfall der Hamas eine humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen auslöst, hat das tiefgreifende Konsequenzen für das humanitäre Völkerrecht und damit auch für uns: Wenn Regeln offenbar nur selektiv gelten, fühlen sich auch andere nicht mehr verpflichtet, sich daran zu halten. Und welche Argumente bleiben uns dann zum Beispiel beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine?
- Auch die USA, das haben die letzten Wochen gezeigt, setzen immer öfters auf das Recht des Stärkeren. Warum tut Trump das? Weil er es kann.
Ja, Verlässlichkeit ist unsere Währung. Aber was machen wir, wenn unser Gegenüber diese Währung nicht akzeptiert?
Wir versuchen weiter, mit der US-Regierung eine Lösung für die sehr schwierige Zoll-Situation zu finden – im Interesse unserer Wirtschaft, der bedrohten Arbeitsplätze und letztlich der Bevölkerung. Dabei müssen wir aber unseren Prinzipien treu bleiben. Verlässlichkeit und Rechtsstaatlichkeit machen die Schweiz zu einer interessanten Partnerin. Das gilt jetzt erst recht: Denn alle, welche diese Verlässlichkeit in den USA nicht mehr finden, suchen sie umso entschlossener anderswo.
Egal wie die Verhandlungen mit den USA ausgehen: Unsere Beziehungen zu Europa werden noch wichtiger, als sie es sowieso schon sind:
- Europa ist mit grossem Abstand unsere beste Kundin: 51 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, 18 Prozent in die USA. Wenn wir den Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren würden, hätte das noch dramatischere Auswirkungen als die US-Zölle.
- Europa ist nicht ein Partner unter anderen. Europa ist unsere Nachbarschaft. Europa ist unser Quartier. Mit unseren Nachbarn gute Beziehungen zu pflegen und diese weiterzuentwickeln, liegt in unserem ureigenen Interesse. In der aktuellen geopolitischen Lage sowieso.
Das Leben ist immer besser, wenn man es mit den Nachbarn gut hat. Und Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Wir können die Schweiz nicht nach Asien zügeln. Und wir wollen das auch nicht.
Wir sind geografisch das Herz Europas. Und nicht nur das: Erasmus, einer der ersten wahren Europäer, liegt im Basler Münster begraben. Geboren in Rotterdam, lebte er in Frankreich, England, Belgien, Italien und der Schweiz. Er hat Europa geprägt. Sein Humanismus stellte den Menschen in den Mittelpunkt: Den kritischen Geist, das Ideal der Bildung, die Überzeugung, dass jeder Mensch zur Vernunft fähig ist. Für ihn war die Welt ein Vaterland – seine Heimat dort, wo seine Bibliothek steht.
Eine besondere Bibliothek steht übrigens in Lausanne. Ich war kürzlich dort, im Archiv von Jean Monnet, einem Gründervater der EU. Dort ist die europäische Idee greifbar. Das hat mich bewegt, weil mir dort wieder klargeworden ist, wie viel auch wir in der Schweiz dieser Idee verdanken: Alles in allem leben wir in unserer Nachbarschaft seit 80 Jahren friedlich zusammen. Wir sind also nicht nur das Herz Europas, wir hüten auch einen Teil des europäischen Gedächtnisses.
Natürlich sind wir nicht immer einer Meinung. Natürlich gibt es Unstimmigkeiten. Natürlich wahrt jedes Land – und auch die EU – ihre eigenen Interessen. Aber ich sage es immer wieder, meine Damen und Herren: Wir könnten deutlich schlechtere Nachbarn haben! Fragen Sie die Ukraine, fragen Sie Südkorea.
Demokratie, Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Klimaschutz sind Werte, die uns verbinden. Werte formen Institutionen. Und diese Institutionen entscheiden laut Daron Acemoğlu und James A. Robinson über Erfolg oder Misserfolg von Nationen.
In ihrem Buch Why Nations Fail zeigen sie, wie demokratische Institutionen Teilhabe, Rechtssicherheit und Wohlstand fördern. Weil das Potenzial aller genutzt wird. Oder um es in der Jass-Sprache zu sagen: Undenufe ist erfolgreicher als Obenabe. Die Schweiz gehört zwar nicht zur EU, aber wir gehören zu Europa. Auch weil wir das Ideal der demokratischen Teilhabe gemeinsam verfolgen. In schwierigen Zeiten wie diesen spüren wir das umso mehr.
Und damit bin ich wieder bei der Verlässlichkeit.
Die EU ist ein verlässlicher Partner. Die Verhandlungen mit ihr waren intensiv und wurden von beiden Seiten engagiert geführt. Immer auf Augenhöhe. Die Verhandlungen sind so gelaufen, wie sie laufen sollten: Beide Seiten mussten Zugeständnisse machen und aufeinander zugehen.
Die EU war nach den abgebrochenen Verhandlungen über das Rahmenabkommen bereit, einen neuen Anlauf zu nehmen. Die Gegner des Vertragspaketes tun so, als sei das eine Selbstverständlichkeit. Sie täuschen sich. Man kann einer Verbündeten nicht jedes Mal die Türe vor der Nase zuschlagen.
Rückblickend stellen wir fest: Beide Seiten sind mit den Bilateralen gut gefahren. Auch die EU hat sich an die gemeinsam vereinbarten Regeln gehalten. Einige werden jetzt einwenden: Aber bei der Börsenäquivalenz und bei Horizon, da haben sie mit uns auch Machtpolitik gemacht. Das stimmt, aber eben gerade weil wir uns nicht auf gemeinsame Regeln geeinigt hatten. Das holen wir mit dem neuen Paket nach.
Meine Damen und Herren
Es gibt viele gute Gründe für die Weiterentwicklung des bilateralen Weges. Einer ist aber mit Abstand der wichtigste: Was wir ausgehandelt haben, ist wirklich gut.
Mit den ausgehandelten Abkommen erreichen wir alle Ziele, die der Bundesrat im Mandat festgelegt hatte. Wir haben weiterhin hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt, wahren unsere direkte Demokratie, den Service Public und den Lohnschutz. Wir haben Rechtssicherheit und Verlässlichkeit. Bei Streitigkeiten entscheidet ein paritätisches Schiedsgericht. Im Staatenbund der Eidgenossenschaft war das übrigens über Jahrhunderte hinweg die bewährte Art, wie unsere Vorfahren Konflikte untereinander lösten. Und mit der Schutzklausel können wir die Zuwanderung wenn nötig steuern. Bei wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen. Und wir bestimmen, wann das der Fall ist. Dass wir diese Klausel bekommen, hätte noch vor einem Jahr fast niemand gedacht.
Auf diese Leistung unserer Diplomatie stolz zu sein, wäre übrigens auch eine Form des Patriotismus: Modern und gleichzeitig ganz in der eidgenössischen Tradition.
Meine Damen und Herren
Die Welt ist schneller und unübersichtlicher geworden. Herausforderungen lassen sich immer weniger allein lösen, erst recht nicht in einem kleinen Land.
Es findet eine Verdichtung statt. Die Schweiz ist kein freistehendes Einfamilienhaus ab vom Schuss, sondern eine Eigentumswohnung in einem Mehrfamilienhaus mitten in einem belebten Quartier.
Das merke ich auch in meinem Departement immer wieder. Die Herausforderungen der Asyl- und Migrationspolitik zum Beispiel, können wir nur zusammen mit Europa und zusammen mit den Herkunftsländern meistern. Darum setze ich mich aus Überzeugung dafür ein, dass wir uns am Asyl- und Migrationspakt der EU beteiligen und uns dem Solidaritätsmechanismus anschliessen. Das gleiche gilt für die Verbrechensbekämpfung. Heute ist internationale Zusammenarbeit der entscheidende Schlüssel zu guter und erfolgreicher Polizeiarbeit – etwa im Rahmen von Schengen/Dublin.
Es gibt keine Alternative zu internationaler Zusammenarbeit. Jedenfalls nicht für die Schweiz. Wenn wir als kleines Land gute Verträge mit gemeinsam festgelegten Regeln abschliessen, stärkt das unsere Handlungsfähigkeit und damit unsere Souveränität.
Liebe Europäerinnen und Europäer
Ich sei ein Euroturbo, wird gern geschrieben. Selber habe mich nie so gefühlt. Aber – und damit komme ich auf mein politisches Aha-Erlebnis in der Regio Basiliensis und der Oberrheinkonferenz zurück: Je länger ich mit unseren Nachbarn zusammengearbeitet habe und je mehr politische Verantwortung ich hatte, desto überzeugter war ich, dass das der richtige Weg ist. Die Regio Basiliensis beweist seit Jahrzehnten, dass grenzüberschreitende Zusammenarbeit Wohlstand und Lebensqualität fördert. Seit ich Bundesrat bin – und erst recht seit das Vertragspaket auf dem Tisch liegt – bin ich davon sogar noch überzeugter.
Auch wenn die Abstimmung erst 2028 stattfinden sollte: Die 1800 Seiten sind in der Vernehmlassung, die öffentliche Meinungsbildung läuft. Wir reden heute über Europa. Und wir werden weiterhin darüber reden. Die eigenen Interessen im Auge, aber hoffentlich auch das, was uns mit der EU verbindet: Die Geografie macht uns zu Nachbarn. Die Nachbarschaft und die Geschichte machen uns zu Weggefährten. Die Wirtschaft macht uns zu Partnern. Werte machen uns zu Verbündeten. Die Verlässlichkeit macht uns zu Freunden.
Zum Schluss setzen wir uns nochmals an den Jass-Tisch: Jassen kann man nur zusammen mit anderen. Wer sich nicht an die Regeln hält, sitzt irgendwann allein am Tisch. Und wer beim Schieber mit dem Trumpf-Buur bis zum letzten Stich wartet und damit das Nell holt, macht 39 Punkte. 39! – voila!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.