Ein starkes Zeichen im Kampf gegen den Hunger in bewaffneten Konflikten

Für die Schweiz stellt das als Methode der Kriegsführung praktizierte Aushungern von Zivilpersonen ungeachtet der Art des Konflikts (internationaler Konflikt oder Bürgerkrieg) ein Kriegsverbrechen dar. Auf Initiative der Schweiz wurde das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) so geändert, dass dies auch auf internationaler Ebene besser anerkannt wird.

Ein kleines Mädchen lehnt mit besorgtem Gesichtsausdruck an einer Wand und wartet darauf, Essen zu bekommen.

Ein Mädchen auf der Station für Unterernährung des al-Sabeen Maternity and Childhood Hospital in Sana'a, Jemen. © Keystone

Gerade in Bürgerkriegen wird diese Realität von der Welt noch kaum wahrgenommen: belagerte Städte, die von Lebensmittellieferungen auf dem Land-, Luft- oder Seeweg abgeschnitten sind. Um die Zivilpersonen auszuhungern, greifen die Konfliktparteien häufig vorsätzlich Güter an, die für das Überleben der Zivilbevölkerung notwendig sind: Lebensmittel, Landwirtschaftsland, Ernten, Vieh und Trinkwasserreserven. Im Krieg wird manchmal auf das Gesetz des Stärkeren gesetzt, das heisst je grösser der Hunger der Gegenpartei, umso schwächer ihr Widerstand. 

In den Ländern, in denen zurzeit schwere bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Regierungskräften und bewaffneten Gruppen stattfinden, bezahlt die Zivilbevölkerung einen hohen Preis. Im Jemen ist diese Realität greifbar. Der 2015 ausgebrochene Konflikt stürzte das Land in eine nie dagewesene humanitäre Krise und führte zu einer schweren Notlage der Zivilbevölkerung, die an akuter Mangelernährung, Unterernährung und Hunger leidet. Gemäss der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), dem Welternährungsprogramm (WFP) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind 2,3 Millionen Kinder von einer lebensbedrohenden Nahrungsmittelknappheit betroffen. 2019 litten laut diesen Organisationen weltweit 687 Millionen Menschen an Unter- oder Mangelernährung. Die meisten von ihnen lebten in Konfliktgebieten.

Ein Erfolg der Schweizer Diplomatie

Der Jemen ist kein Einzelfall. In vielen Regionen der Welt verursachen Bürgerkriege vergleichbare Desaster. Ernährungsunsicherheit ist jedoch weder eine Fatalität noch ein Schicksalsschlag. Die internationale Gemeinschaft kann und muss mehr zu deren Verhinderung und Linderung tun. Im Einklang mit ihrer humanitären Tradition schlug die Schweiz vor, das Römer Statut des ICC zu ändern und das Aushungern der Zivilbevölkerung ungeachtet der Art des Konflikts als Kriegsverbrechen zu verankern. Bisher konnte der ICC diese Methode nur als Kriegsverbrechen verfolgen, wenn sie in einem internationalen bewaffneten Konflikt, also in einem Krieg zwischen Staaten, eingesetzt wurde.

Dank intensiven diplomatischen Anstrengungen konnte die Schweiz die anderen 122 Vertragsstaaten des ICC schrittweise von ihrer Position überzeugen. Am 6. Dezember 2019 wurde die vorgeschlagene Änderung einstimmig verabschiedet. "Der Vorschlag und die Art und Weise, wie die Schweiz den Prozess geführt hat, brachte ihr Anerkennung ein", so der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten Ignazio Cassis.

Übersicht über die Änderung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.
Diese Ergänzung des Römer Statuts trägt dazu bei, solche Taten zu verhindern und die Straflosigkeit der Urheber von Kriegsverbrechen zu bekämpfen. © EDA

Ein Engagement im Einklang mit den Zielen der Aussenpolitischen Strategie 2020–2023

An seiner Sitzung vom 19. Mai 2021 verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur Genehmigung dieser Änderung zuhanden der Bundesversammlung. Diese Ergänzung des Römer Statuts trägt dazu bei, solche Taten zu verhindern und die Straflosigkeit der Urheber von Kriegsverbrechen zu bekämpfen. Sie stärkt die Leistungsfähigkeit des ICC, setzt das humanitäre Völkerrecht um und unterstützt die Bestrebungen der humanitären Hilfe. Somit würde die Schweiz mit der Ratifikation dieser Änderung zur Erreichung der Ziele der Aussenpolitischen Strategie 2020–2023 des Bundesrates beitragen.

Damit die Straflosigkeit wirksam bekämpft werden kann, dürfen diejenigen, die das Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung einsetzen, der Strafverfolgung nicht länger entgehen können. Es ist daher wichtig, dass die Vertragsstaaten die Änderung ratifizieren und das Aushungern von Zivilpersonen auch im innerstaatlichen Recht für strafbar erklären. Mit der Ratifikation der Änderung ermutigt die Schweiz auch andere Vertragsstaaten, diesen Schritt zu tun.

Interview mit der Botschafterin Corinne Cicéron Bühler, Leiterin der Direktion für Völkerrecht (DV)

Porträt von Corinne Cicéron Bühler, lächelnd mit der Schweizer Fahne im Hintergrund.
Corinne Cicéron Bühler ist seit dem 9. Mai 2018 Direktorin der Direktion für Völkerrecht des EDA. © Keystone

Die von der Schweiz vorgeschlagene Änderung schützt die Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten. Kann sie auch zu einer nachhaltigen Konfliktlösung beitragen? Wie?

Mit der von den Vertragsstaaten des Römer Statuts verabschiedeten Änderung soll die Zuständigkeit des ICC für das Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung auf innerstaatliche bewaffnete Konflikte, also auf Bürgerkriege, ausgeweitet werden. Dieser Vorschlag ist Teil des Engagements der Schweiz für einen leistungsfähigen ICC. Mit der Ratifikation der Änderung stärkt die Schweiz die Relevanz des ICC in den aktuellen bewaffneten Konflikten, in denen diese Methode häufig eingesetzt wird.

Es ist wichtig, dass die Opfer in den betroffenen Gesellschaften Gerechtigkeit erfahren. Die Untersuchung, Dokumentation und Anerkennung dieses Verbrechens trägt zu einer Versöhnung in der Gesellschaft bei, was ein friedliches Zusammenleben und eine nachhaltige Konfliktlösung begünstigen kann. Die Ratifikation der Änderung würde also einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung der Straflosigkeit im Sinne der Friedensförderung leisten, wie es die Aussenpolitische Strategie 2020–2023 des Bundesrates vorsieht.

Was tut die Schweiz konkret für die Bevölkerung, die in bewaffneten Konflikten von Ernährungsunsicherheit betroffenen ist?

Die Schweiz leistet im Rahmen ihres humanitären Engagements Nothilfe, die der von bewaffneten Konflikten betroffenen Bevölkerung direkt zugutekommt. Dabei konzentriert sie sich insbesondere auf die Verbesserung der Ernährungssicherheit und der Lebensgrundlagen und setzt sich aktiv für die Sicherstellung des humanitären Zugangs ein. Mit der Ratifikation dieser Änderung würde diese Arbeit gestärkt, da der ICC künftig das Vorenthalten der für Zivilpersonen lebensnotwendigen Güter, einschliesslich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen, ahnden kann.

Das Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung ist durch das humanitäre Völkerrecht verboten. Damit dieses Verbot eine abschreckende Wirkung hat, müssen solche Verstösse systematisch verfolgt und die Urheber dieses Verbrechens strafrechtlich sanktioniert werden. Mit der Änderung wird die Zuständigkeit des ICC für dieses Verbrechen gezielt erweitert und damit auf internationaler Ebene eine Lücke geschlossen. Zur Stärkung der präventiven Wirkung ist es entscheidend, dass die Änderung ratifiziert wird und diese Taten auch im innerstaatlichen Recht für strafbar erklärt werden. Die Schweiz ruft die Vertragsstaaten des Römer Status auf, die Änderung betreffend das Kriegsverbrechen des Aushungerns zu ratifizieren und so ein starkes Zeichen für den Schutz der Zivilpersonen in den heutigen bewaffneten Konflikten zu setzen.

Die Ratifikation dieser Änderung des Römer Statuts kann als Erfolg der Schweizer Diplomatie gewertet werden. Was hat die Schweiz konkret unternommen, um alle Vertragsstaaten zu überzeugen? War es sehr schwierig, alle für diese Änderung zu gewinnen?

Die Schweiz schlug diese Änderung erstmals informell im April 2018 in der Arbeitsgruppe der Versammlung der Vertragsstaaten des Römer Statuts in New York vor. Inhaltlich stiess der Vorschlag in den ersten Diskussionen auf Zustimmung. Einige Delegationen hatten jedoch formelle Bedenken. Um diese auszuräumen, haben wir viel Überzeugungsarbeit geleistet. Wir unternahmen beispielsweise in den Hauptstädten bestimmter Staaten diplomatische Demarchen. Weiter führten wir gezielt Veranstaltungen zur Sensibilisierung durch, insbesondere am UNO-Sitz in New York. Ab Mai 2019 sprach sich eine zunehmend grössere Zahl von Delegationen für den Schweizer Vorschlag aus. Gleichzeitig erhielt der Vorschlag im öffentlichen Raum immer mehr Unterstützung, so in wissenschaftlichen Publikationen oder durch humanitäre Organisationen. Im Herbst 2019 unternahm die Schweiz in der Arbeitsgruppe selber beträchtliche Anstrengungen, um die letzten formalen Zweifel gewisser Staaten auszuräumen. Unterstützt durch 21 andere Länder aller Kontinente konnte sie die Änderung schliesslich an der Plenarversammlung der Vertragsstaaten vom Dezember 2019 vorbringen. Trotz eines in letzter Minute geäusserten Vorbehalts von Venezuela wurde die Änderung von den Vertragsstaaten am 6. Dezember 2019 einvernehmlich angenommen.

Welche Beziehungen unterhält die Schweiz mit dem ICC?

Die Schweiz unterstützte den ICC von Anfang an. Der Bundesrat setzt sich gemäss seiner Aussenpolitischen Strategie 2020–2023 für einen leistungsfähigen ICC ein. Mit diesem Engagement tragen wir dazu bei, dass der ICC politischem Druck besser standhalten und sich seiner Hauptaufgabe widmen kann: die schwersten Verbrechen in völliger Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu verfolgen.

Die Schweiz beteiligt sich beispielsweise aktiv am laufenden Prozess zur Überprüfung des ICC und zur Stärkung seiner Effektivität und Effizienz. Wir engagieren uns insbesondere dafür, dass nur die am besten qualifizierten und kompetentesten Personen in Schlüsselpositionen beim ICC gewählt werden. Ferner setzt sich die Schweiz dafür ein, dass der ICC über die nötigen Ressourcen verfügt, um seine Aufgaben bestmöglich zu erfüllen. Neben den obligatorischen jährlichen Beiträgen entsenden wir ab Sommer 2021 beispielsweise einen Ermittlungsexperten an den ICC.

Anfang April haben die USA ihre Sanktionen gegen den ICC aufgehoben. Die Schweiz hat das in einer Stellungnahme begrüsst. Wie wichtig ist dieser Schritt der USA für das Funktionieren des ICC?

Die USA haben Anfang April nicht nur das Sanktionsregime gegen den ICC widerrufen, sondern auch konkrete Massnahmen gegen die Chefanklägerin und einen ihrer Mitarbeiter aufgehoben. Für das Funktionieren des ICC hat dies erfreuliche praktische Auswirkungen, etwa im Bereich der Reisefreiheit oder der Finanzdienstleistungen.

Darüber hinaus hat der Entscheid jedoch vor allem gewichtige Signalwirkung. Der ICC befasst sich heute mit mehr als zwanzig Situationen weltweit, darunter etwa in Afghanistan, in der Ukraine oder in Mali. Mit diesem Erfolg mehren sich Versuche, die Institution zu schwächen. Mit ihrem jüngsten Entscheid signalisieren die USA gegenüber der Staatenwelt, dass sie trotz ihrer kritischen Haltung das fundamentale Mandat des ICC unterstützen: Die Ahndung der schwersten Verbrechen, die den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen. Damit stärken die USA die Glaubwürdigkeit und letztlich die Leistungsfähigkeit des ICC.

Unmittelbar nachdem die USA im Juni 2020 die Sanktionen beschlossen hatte, rief die Schweiz die USA dazu auf, die verschärften Massnahmen zu widerrufen. Konnte die Schweiz hier etwas bewirken?

Gemäss ihrem Einsatz für einen leistungsfähigen ICC, hat die Schweiz die USA tatsächlich mit Nachdruck öffentlich und im direkten Kontakt dazu aufgerufen, die Massnahmen gegen den ICC aufzuheben. Noch im Juni 2020 lancierte sie etwa gemeinsam mit Costa Rica einen Aufruf zur Unterstützung des ICC, der von 67 Staaten unterzeichnet wurde. Im Herbst 2020 überbrachte dann der Schweizer Botschafter in Washington ein Schreiben, in dem über 40 Staaten die USA dazu aufrufen, die Massnahmen zu widerrufen. Die Schweiz handelte also im Verbund mit anderen Staaten. Es ist schwierig, abschliessend zu beziffern, wie entscheidend der Einsatz der Schweiz war. Eines können wir jedoch mit Bestimmtheit sagen: Die konsequente, konstruktive und koordinierte Herangehensweise der Schweiz wurde auf internationaler Ebene von verschiedenen Akteuren sehr geschätzt.

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