Liebling, wir müssen (übers Essen) reden

Die Weltbevölkerung wächst und muss «gefüttert» werden. Mit den vorhandenen Ressourcen ist dies eine grosse Herausforderung. Damit die Menschheit auch in Zukunft gesund und bezahlbar ernährt werden kann, braucht es nachhaltige Ernährungssysteme – ein Schlüssel für das Erreichen der Ziele «Agenda 2030». Am «Food Systems Summit» der UNO 2021 soll es Antworten geben.

18.05.2021
Blick in die Gemüseabteilung eines Supermarkts.

Nur mit nachhaltigen Nahrungsmittelsystemen wird es in Zukunft möglich sein, die Weltbevölkerung gesund, ausreichend und langfristig zu ernähren. © Unsplash/Scott Warman

Ich sitze am Tisch beim Abendessen. Auf meinem Teller liegen ein gebratenes Entrecôte, etwas Broccoli und Pommes Alumettes. Dort zu liegen kam alles dank Nahrungsmittelsystemen. Aber was ist ein solches Nahrungsmittelsystem und wie funktioniert es? Ein Nahrungsmittelsystem umfasst alle Teilbereiche einer Gesellschaft, die in der Lebensmittelversorgung involviert sind. Im Falle von Broccoli: Es beginnt mit Vorleistungsprodukten wie Düngemittel oder Pestiziden, dem Anbau und der Ernte, der Verarbeitung und Verpackung, dem Transport und der Vermarktung sowie Zubereitung und Verzehr des besagten Broccolis. Es beinhaltet insbesondere auch all den Abfall, der auf diesem Weg produziert wurde, sowie die Energie und das Wasser, das verbraucht wurde.

Grafik, die ein Ernährungssystem von der Produktion von Saatgut und Futter zur landwirtschaftlichen Produktion zur Verarbeitung und Verpackung über den Verkauf im Einzelhandel zum Konsum bis hin zur Abfallverwertung aufzeigt.
Ohne nachhaltige Ernährungssysteme, können die nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 nicht erreicht werden. © EDA

Die Weltbevölkerung wächst kontinuierlich. Neben Luft und Wasser gehören Nahrungsmittel zu ihrer Lebensgrundlage. Die Lebensmittel müssen verfügbar, von guter Qualität, bezahlbar und gesund sein. Geht das? Beispielsweise sind Hunger und Mangelernährung in Entwicklungsländern, aber auch Übergewicht oder Lebensmittelverschwendung in Industriestaaten aktuelle Herausforderungen, die in direktem Zusammenhang mit unserer Ernährung stehen.

«Decade of Action»

Damit auch künftige Generationen auf diesem Planeten leben können, müssen Nahrungsmittelsysteme nachhaltig werden. UNO-Generalsekretär António Guterres sieht in ihnen einen «Game Changer», sprich er hält solche Systeme für matchentscheidend. Denn wie Guterres 2019 bekannt gab, macht die Welt in Bezug auf die Agenda 2030 in gewissen Sektoren Rückschritte, im Kampf gegen den Klimawandel und dessen Folgen, um nur ein Beispiel zu nennen. Damit die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Agenda 2030 trotzdem erreicht werden, rief der UNO-Generalsekretär 2019 zu einer «Decade of Action» auf. Die Staatengemeinschaft muss sich also für das Erreichen der SDGs bis 2030 mehr anstrengen. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Nahrungsmittelsysteme. 

Ernährungssysteme sind mit jedem der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung verknüpft und ihre Transformation ist für die Umsetzung der Agenda 2030 unerlässlich.
Jacques Ducrest, Delegierter des Bundesrats für die Agenda 2030
Grafik der 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030.
Die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen ist der globale Referenzrahmen für nachhaltige Entwicklung. © UNO

Jacques Ducrest, der Delegierte des Bundesrats für die Agenda 2030, erklärt den Zusammenhang: «Ernährungssysteme sind mit jedem der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung verknüpft und ihre Transformation ist für die Umsetzung der Agenda 2030 unerlässlich.» Denn nur mit nachhaltigen Nahrungsmittelsystemen wird es in Zukunft möglich sein, die Weltbevölkerung gesund, ausreichend und langfristig zu ernähren, gleichzeitig das Klima und die biologische Vielfalt zu schützen und zum Wohlstand beizutragen. 

Die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit bedeutet mehr als Umweltschutz. Es geht darum, die Lebensmittelversorgung und Ernährungssicherheit im Hier und Jetzt sicherzustellen, ohne dabei künftigen Generationen der Grundlage ihrer Lebensmittelversorgung und Ernährungssicherheit zu berauben. Dabei sind drei Dimensionen zentral, die voneinander abhängig sind:

  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Umwelt

Ein konkretes Beispiel: Ich stehe vor dem Kaffeeregal im Supermarkt und habe die Qual der Wahl. Arabica, oder Robusta? Fair Trade oder doch das günstigere Produkt? Entscheide ich mich für das Fair Trade Produkt, weiss ich, dass in der Produktionskette allen drei Dimensionen Rechnung getragen wurde. Der Kaffeebauer erhält einen fixen Mindestpreis für seine Bohnen und hat einen fairen Vertrag mit seinem Abnehmer (wirtschaftliche Dimension). Ich unterstütze mit dem Kauf keine Kinderarbeit, fördere aber menschenwürdige Arbeitsbedingungen (soziale Dimension). Zudem kann ich mich darauf verlassen, dass beim Anbau auf den Schutz der Umweltressourcen geachtet wurde (ökologische Dimension). Alle drei Dimensionen sind miteinander verwoben und beinflussen sich gegenseitig.

Lokale Dialoge für nachhaltige Nahrungsmittelsysteme in der Welt

Es wundert nicht, dass Nahrungsmittelsysteme eine Priorität der UNO sind. Im September 2021 findet anlässlich der UNO-Generalversammlung ein Ernährungsgipfel statt. Für die Vorbereitung des Gipfels hat die UNO ihre Mitgliedsstaaten eingeladen, nationale Dialoge über Nahrungsmittelsysteme zu führen. Die Dialoge in der Schweiz sind bereits in vollem Gange. Interessierte Akteure sind dabei eingeladen, einen Beitrag zum UNO-Gipfel zu leisten, indem sie ihre Rolle in den Ernährungssystemen klären.

Die Teilnehmenden gehen der Frage nach, wie wir unsere Vorgehensweise in der Produktion, dem Kauf und dem Konsum von Nahrungsmitteln in der Schweiz verändern können. Ziel davon ist Wege zu finden, wie der ökologische Fussabdruck der Nahrungsmittelsysteme reduziert werden kann, um den Klimawandel und dessen Folgen einzudämmen. Zudem soll aber auch allen beteiligten wirtschaftlichen Akteuren in der Lebensmittelkette Rechnung getragen werden, damit diese ihre Lebens- und Geschäftsgrundlage nicht verlieren. Schlussendlich wird auch die Gesundheit der Endkonsumenten in den Dialog miteinbezogen, indem unter anderem über den Einsatz gefährlicher Pestizide bei der Lebensmittelproduktion diskutiert wird. Ein erster nationaler Dialog hat am 23. März 2021 bereits stattgefunden. Die regionalen Dialoge, organisiert durch Helvetas im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft, finden am 6. Mai 2021 in Genf, am 18. Mai in Bellinzona und am 20. Mai in Basel statt.

Gleichzeitig führt die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) einen unabhängigen Dialog mit Partnerorganisationen. Damit nutzt sie, dass sie über die Landesgrenzen hinaus ein Netzwerk von Ländern und Organisationen aktivieren kann, die sich auf die eine oder andere Art mit Nahrungsmittelssystemen oder Teilen davon befassen.

«Ich habe das Land meiner Kinder in Pacht»

Jon Paul Thom mit seinen Kühen auf einer Wiese in den Alpen des Bündnerlands.
Seit 35 Jahren produziert der Bündner Bio-Landwirt Jon Paul Thom nachhaltig. © Jon Paul Thom

Der Landwirt Jon Paul Thom aus dem Unterengadin steht am Beginn der Kette, die zum Food Systems Summit der UNO in New York führt. Seit 40 Jahren führt er einen Landwirtschaftsbetrieb und ist seit 35 Jahren Bio-Bauer. Der Bündner, spezialisiert auf Mutterkuhhaltung, erzählt im Interview über seine Motivation nachhaltig Landwirtschaft zu betreiben und erklärt die aktuellen Herausforderungen mit welchen die Schweizer Landwirte konfrontiert sind.

Herr Thom, welches ist Ihre Motivation für eine nachhaltige Landwirtschaft?

«Mein Grundgedanke in der Landwirtschaft ist, dass ich das Land meiner Kinder in Pacht habe. Der Boden soll auch noch für die zukünftigen Generationen intakt bleiben. Wir schauen, dass wir die Biodiversität und die Futtergrundlage, die wir für unsere Tiere brauchen, beibehalten können.»

Wie produzieren Sie konkret?

«Mit der Mutterkuhhaltung folge ich dem natürlichen Lauf der Dinge. Das Kalb bleibt nach der Geburt bei seiner Mutter, wird gesäugt und sie erhalten später Gras und Heu. Die Leistung meiner Tiere ist nicht auf 100% getrimmt. Sie erhalten kein wachstumsförderndes oder gentechnisch verändertes Futter und sie sind den ganzen Sommer durch auf der Weide und haben auch im Winter Auslauf. Ich verzichte auf den Einsatz von Antibiotika. Nur im äussersten Notfall bekommen die Tiere etwas vom Tierarzt.»

Dennoch sind im Supermarkt biologische Produkte in der Unterzahl. Woran liegt das?

«Das hat mit der Nachfrage zu tun. Jedes Nahrungsmittel muss so billig wie möglich sein und niemand fragt danach wie es produziert wird. Die Lebensmittelregale in den Supermärkten sind voll. Bio-Produkte kosten aber mehr. Zudem hat der Stellenwert der Nahrungsmittel über die Jahrzehnte in der Schweizer Gesellschaft abgenommen. Menschen geben in der Schweiz immer weniger Geld aus für Nahrungsmittel. Gleichzeitig ist es ist einfacher ein Feld zu spritzen als es zu jäten. Es muss ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden. Wenn die Nachfrage nach biologischen Lebensmitteln steigt, und das tut sie in den letzten Jahren, gibt es auch für Landwirte mehr Anreize nachhaltig zu produzieren. Die Schweiz ist aber auf dem richtigen Weg. 2020 betrug der Bio-Marktanteil 20%.»

Was können andere Länder von der Schweiz lernen?

«Die Industrialisierung der Landwirtschaft hat einen grossen Einfluss auf nachhaltige Produktion. Grosskonzerne kaufen in vielen Staaten Land auf und schreiben den Produzenten vor, wie produziert werden muss. Angestellte schuften in schlechten Arbeitsbedingungen, damit der Konzern Gewinn machen kann. Dadurch werden andere Länder auch ausgehungert. Die guten Produkte werden exportiert. Es gibt wenig Länder wie die Schweiz, die so viele Biobauern hat. Ich bin überzeugt, dass auf der Welt nachhaltiger produziert werden muss und man sich an uns ein Vorbild nehmen kann. Denn in vielen Regionen der Welt mit wird irgendwann nichts mehr wachsen, weil der Boden kaputt geht durch die exzessive Landwirtschaft.

Die Schweiz ist sehr innovativ und hat hohe Ansprüche an den Tier- und Gewässerschutz. Mit den grossen Maschinen heutzutage bemerkt man kaum noch, was unter einem vor sich geht. In der Welt gibt es noch viele Bauern die mit Herzblut Landwirtschaft betreiben und ein Gespür zum Boden haben. Wir haben zudem viel Grünland, wo Ackerbau nicht möglich ist. Dieses Land als Weideland zu nutzen kann dabei helfen, Tiere weniger mit künstlichem Futter zu füttern. Das wichtigste ist, dass so viel Land wie möglich und möglichst alle Produkte aus der Landwirtschaft verwertet werden. Damit schliesst sich der natürliche Kreislauf.»

Auf was sind sie nach 40 Jahren nachhaltiger Landwirtschaft besonders stolz?

«Ich bin stolz auf meine Produkte, die frei sind von Rückständen und Antibiotika und ich kann sie ohne schlechtes Gewissen verkaufen. Meine Tiere und mein Land leiden nicht. Der Entscheid nachhaltig zu produzieren, ist das Beste was ich in meinem Leben gemacht habe. Ich habe jeden Tag Freude daran und ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Und besonders freut mich, dass mein Sohn einen gesunden Betrieb übernehmen kann.»

Nachhaltigkeit ein Schwerpunkt der Schweizer Aussenpolitik

Die Resultate der Schweizer Dialoge sowie der unabhängigen Dialoge der DEZA werden gesammelt und für den UNO-Gipfel aufbereitet. Hier kommt die Schweizer Aussenpolitik ins Spiel. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA engagiert sich speziell im Rahmen seiner Internationalen Zusammenarbeit auf lokaler und multilateraler Ebene (zum Beispiel bei der UNO) im Bereich der Ernährungssicherheit, weil Hunger und Mangelernährung die Entwicklung von Ländern massgeblich gefährdet. Dieses Engagement widerspiegelt sich in der Aussenpolitischen Strategie 2020-2030 (APS) der Schweiz. Die Nachhaltigkeit ist einer der vier thematischen Schwerpunkte der Strategie. Zentral sind dabei die Umsetzung der Agenda 2030 und der globale Klima- und Umweltschutz. Indem sich das EDA für nachhaltige Nahrungsmittelsysteme einsetzt, engagiert sich das Departement auch für die Umsetzung der Agenda 2030. Der Dialogprozess ist beispielhaft für den Wissenstransfer aus dem regionalen in den internationalen Kontext und ganz im Sinne von Bundesrat Ignazio Cassis’ Credo «Aussenpolitik ist Innenpolitik».

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