«Der Schock war gross, aber er hat den Europarat nicht geschwächt, im Gegenteil»

Die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Menschenrechte, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - Ziele, für deren Förderung sich die Organisation einsetzt. Doch der Europarat hat reagiert, sagt Christian Meuwly, Chef der Ständigen Vertretung der Schweiz beim Europarat in Strassburg. Und die Prinzipien des Europarats finden sich auch in der Erklärung von Lugano wieder, die den Rahmen für den politischen Prozess des Wiederaufbaus der Ukraine bildet.

Ein grosser Saal mit einer Dachkonstruktion aus Holz und Sitzreihen im Halbkreis, in denen die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sitzen.

Der Plenarsaal der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, in der die Schweiz mit einer sechsköpfigen Delegation vertreten ist. © Keystone

Schutz der Menschenrechte, Förderung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit: Der Europarat setzt sich für Werte ein, die auch für die Schweiz zentral sind. Welche Bedeutung hat der Europarat für die Schweizer Aussenpolitik?

Der Europarat ist die Dachorganisation, in der die europäischen Staaten ihre Zusammenarbeit auf der Grundlage des Rechts und gemeinsamer Werte bekräftigen. Er trägt zur Sicherheit bei, indem er allgemein akzeptierte Normen entwickelt, deren Umsetzung fördert und die Debatte über neue gemeinsame Herausforderungen ermöglicht, bevor sie zu Konflikten führen. 

Porträt von Botschafter Christian Meuwly, im Hintergrund der Palais de l’Europe.
Christian Meuwly, Chef der Ständigen Vertretung der Schweiz beim Europarat in Strassburg. © EDA

Der Europarat befasst sich mit den unterschiedlichsten Aspekten der Zusammenarbeit in Europa, nicht nur mit jener von Regierungen, sondern auch von gesetzgebenden Behörden, von regionalen oder lokalen Behörden und generell jener in der Zivilgesellschaft.

Für die Schweiz ist der Europarat der Ort par excellence, wo sich Innen- und Aussenpolitik verschränken.

Für die Schweiz ist er der Ort par excellence, wo sich Innen- und Aussenpolitik verschränken. Durch ihre Arbeit im Europarat tragen die Vertreterinnen und Vertreter sowie die Expertinnen und Experten der Schweiz dazu bei, Europa zu einem besseren Ort zu machen – mit Ideen und Lösungen, die auch die Schweiz voranbringen können. Darüber hinaus dienen zahlreiche Konventionen des Europarats, die auch Nicht-Mitgliedstaaten offenstehen, als gemeinsamer Nenner für eine vertiefte internationale Zusammenarbeit in Bereichen, in denen Europa eine Vorreiterrolle spielt. 

Ein aktuelles Thema sind gemeinsame Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Nutzung von Systemen der künstlichen Intelligenz. Wie kann sich die Schweiz hier einbringen?

Anwendungen der künstlichen Intelligenz können Risiken für die Menschenrechte bergen. Aus diesem Grund arbeitet der Europarat an der Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen, die auch innovationsfördernd sein sollen. Die Vorbereitungsarbeiten begannen 2019, die Verhandlungen über die Elemente eines künftigen Übereinkommens wurden 2022 aufgenommen, nachdem die Ministerinnen und Minister bei ihrem Treffen im Mai in Turin grünes Licht gegeben hatten. Die Schweiz ist an einem Rechtsrahmen interessiert, der offen genug ist, damit sich auch Nicht-Mitgliedstaaten, die für die Zukunft der digitalen Technologien entscheidend sind, dem europäischen Rahmen anschliessen können. Sie beteiligt sich sehr stark an den Expertenarbeiten. Ein Vertreter der Schweiz, Botschafter Thomas Schneider, Vizedirektor des Bundesamtes für Kommunikation (BAKOM), wurde zum Vorsitzenden des Ausschusses für künstliche Intelligenz gewählt, der für die Verhandlungen und Kontakte mit den wichtigsten Akteuren aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft zuständig ist. Die Positionen, die die Schweizer Delegation in den Verhandlungen vertritt, sind im entsprechenden Mandat des Bundesrates festgelegt.

Der Europarat

Der 1949 gegründete Europarat mit Sitz in Strassburg ist die grösste (gemessen an der Zahl der Mitgliedsländer) und älteste politische Organisation Europas. Er konzentriert seine Tätigkeit auf die Förderung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Der Europarat hat heute 46 Mitglieder. Die Schweiz wurde am 6. Mai 1963 das 17. Mitglied der Organisation.

Bisher hat die Schweiz mehr als die Hälfte der über 200 Übereinkommen des Europarats ratifiziert. Sie bilden die Grundlage für die Anpassung und Vereinheitlichung von Gesetzen in den verschiedenen Mitgliedstaaten.

Eine der zentralen Errungenschaften des Europarats ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese verleiht allen Bürgerinnen und Bürgern das Recht, Individualbeschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg einzureichen. Bei einer Verletzung von Rechten oder Garantien, die im Übereinkommen oder seinen Protokollen enthalten sind, kann das Opfer das Gericht anrufen.

Die Schweizer Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung besteht aus sechs Mitgliedern sowie sechs Stellvertreterinnen und Stellvertretern, während sich die Delegation beim Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats aus sechs Gemeinde- und/oder Stadtpräsidentinnen und -präsidenten sowie sechs Vertreterinnen und Vertretern von Kantonsregierungen zusammensetzt. Wie jeder Mitgliedstaat ernennt die Schweiz ausserdem eine Richterin oder einen Richter in den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Ständige Vertretung der Schweiz beim Europarat pflegt die Kontakte mit der Organisation, verfolgt die laufenden Dossiers in Strassburg und berichtet regelmässig und ausführlich über die neusten Entwicklungen.

Mit der russischen Aggression gegen die Ukraine wurde auch der Europarat stark erschüttert: Ein Mitglied führte plötzlich Krieg gegen ein anderes Mitglied. Wie hat die Organisation darauf reagiert?

«Der Schock war gross, aber er hat den Europarat nicht geschwächt, im Gegenteil». Noch am Tag des Angriffs, dem 24. Februar 2022, trat das Ministerkomitee, bestehend aus den ständigen Vertreterinnen und Vertretern, in Strassburg zusammen. Das Ministerkomitee beschloss, auf Artikel 8 der Satzung zurückzugreifen, der es ermöglicht, die Teilnahme eines Mitgliedstaates, der eine schwere Verletzung der Grundsätze der Organisation begeht, vorläufig auszusetzen. Am nächsten Tag beschlossen die Delegierten nach einem Meinungsaustausch mit den Vertreterinnen und Vertretern der Parlamentarischen Versammlung die Suspendierung. Zehn Tage später, nachdem sich die militärische Aggression verschärft hatte, konsultierten sie die Parlamentarische Versammlung zu möglichen weiteren Massnahmen im Rahmen von Artikel 8. Nach einer einstimmigen Empfehlung der Versammlung beschlossen sie am 16. März 2022, dass die Russische Föderation per sofort nicht mehr Mitglied der Organisation sein kann.

Welche Rolle hat hier die Schweiz gespielt?

Die Schweiz nahm aktiv an den Beratungen teil, auf den Korridoren und im Saal, und setzte sich dafür ein, dass im Rahmen der Satzung und der einschlägigen Normen des Völkerrechts eindeutige und der Schwere des russischen Verhaltens angemessene Entscheidungen getroffen werden. Danach machte sie sich beispielsweise für eine aktive Rolle des Europarats gegenüber der Ukraine und den Staaten, die am meisten Kriegsflüchtlinge aufnahmen, stark. An der Konferenz von Lugano zum Wiederaufbau der Ukraine wurden Grundsätze in den Mittelpunkt der internationalen Unterstützung zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft und des ukrainischen Staates gestellt, für deren Förderung und Überwachung keine andere Organisation besser geeignet ist als der Europarat.

Was bedeutet der Ausschluss von Russland?

Die Russische Föderation war von 1996 bis zum 16. März 2022 Mitglied des Europarats. Durch den Ausschluss wurde Russland von jeglicher Zusammenarbeit mit den Institutionen des Europarats, die auf der Satzung von 1949 oder auf Beschlüssen des Ministerkomitees basieren, abgeschnitten. Russland musste auch die Europäische Menschenrechtskonvention verlassen, die den Mitgliedsstaaten vorbehalten ist. Das Land ist Vertragspartei zahlreicher zwischenstaatlicher Übereinkommen, die zwar im Rahmen des Europarats abgeschlossen wurden, aber auch Nicht-Mitgliedstaaten offenstehen. Dort bleibt Russland Vertragsstaat. In den Ausschüssen, die durch diese Übereinkommen eingerichtet wurden, bleibt ein Minimum an Zusammenarbeit bestehen, vorausgesetzt, Russland hält sich an seine Verpflichtungen und die anderen Vertragsstaaten wollen sich noch anhören, was Russland zu sagen hat. Russland ist zudem weiterhin verpflichtet, Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die es betreffen, Folge zu leisten, selbst wenn es nicht mehr Vertragspartei der Konvention ist. Hängige Fälle zu Sachverhalten, die bis zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus der Konvention stattgefunden haben, können nämlich weiterhin verhandelt werden. Das Ministerkomitee erklärte ausserdem, dass es sich auch in Zukunft mit dem Schicksal von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern sowie Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft in Russland befassen werde. Vor allem aber werden die Organe des Europarats (Ministerkomitee, Parlamentarische Versammlung, Generalsekretär) bei ihren öffentlichen Erklärungen zu den Folgen der Aggression in der Ukraine immer wieder Kritik an Russland üben und an seine Verantwortung als Völkerrechtssubjekt appellieren.

Wie prägt der Krieg in der Ukraine konkret die Arbeit des Europarats? Werden Themen priorisiert, andere zurückgestellt? Oder ist der Krieg einfach präsent, weil dadurch die Werte, die der Europarat diskutiert, immer schon unter Druck stehen?

Der Krieg hat die Verantwortung, die dem Europarat zukommt, noch schwerer gemacht. Die Aussicht, dass die russische Gesellschaft und der russische Staat irgendwann die Freiheiten in einem Masse wahrnehmen und schützen würden, wie es dem europäischen Modell entspricht, wurde zunichtegemacht. Stattdessen ist das Leben der demokratischen Gesellschaften des Kontinents einer allgegenwärtigen Bedrohung ausgesetzt. Einige Themen, die bereits auf der Agenda standen, wurden noch zentraler, andere tauchten in der Diskussion auf, obwohl dafür eher andere Organisationen zuständig sind, wie der Kampf gegen die Straflosigkeit von Tätern zwischenstaatlicher Aggressionsverbrechen. Der Europarat hat seine Aktivitäten nicht eingeschränkt, im Gegenteil. Die Mitgliedstaaten haben sich auch schnell darauf geeinigt, den wegfallenden finanziellen Beitrag Russlands für 2022 und danach zu kompensieren. Der Europarat will zum ersten Mal seit 2005 wieder ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefinnen und -chefs einberufen, um seine moralische Autorität zu unterstreichen, seine Ziele und Prioritäten darzulegen und die Organisationen, die sich für Zusammenarbeit in Europa einsetzen, zusammenzubringen.

Wie kann der Europarat der Ukraine konkret helfen, die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen?

Die Ukraine ist seit 1995 Mitglied, und ihre Mitgliedschaft im Europarat hat zweifellos dazu beigetragen, dass ihre Institutionen der Aggression, der sie bereits seit 2014 ausgesetzt ist, standhalten konnten. Insbesondere das Kooperationsnetz, das der Kongress der Gemeinden und Regionen mit den Lokalverwaltungen aufgebaut hat, hat geholfen, die Rolle der demokratisch gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und ihre Nähe zu der Bevölkerung zu bekräftigen. Angesichts des dringenden Verdachts auf Kriegsverbrechen sind die von den Expertenausschüssen des Europarats erarbeiteten Ermittlungsmethoden und Verfahren zur Sicherung von Beweismitteln von unmittelbarem Nutzen.

Die Mitgliedschaft der Ukraine im Europarat hat zweifellos dazu beigetragen, dass ihre Institutionen der Aggression standhalten konnten.

Für die Arbeit der Gerichte, die ihre Tätigkeit aus den besetzten oder umkämpften Bezirken verlegen mussten, sind die Beratung und das Fachwissen, die in den von Strassburg aufgebauten Netzwerken zur Verfügung stehen, eine wertvolle Unterstützung. Für die Garantien der Grundrechte, die auch unter dem Ausnahmezustand gewahrt werden müssen, für die Fortführung und Wiederaufnahme des demokratischen Lebens mit der Abhaltung von Wahlen und der Fortsetzung der gesetzgeberischen Arbeit bietet der Europarat Orientierungshilfen und Unterstützung vor Ort an. Das Kooperationsprogramm des Europarats in der Ukraine war vom Umfang her bereits das grösste aller Programme, die von Teams des Europarats in Mitgliedstaaten durchgeführt wurden. Nach kurzzeitiger Unterbrechung konnte es angepasst und wieder aufgenommen werden. Der Europarat ist aber vor allem eine multilaterale Autorität, die die Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen bekräftigt und bestätigt und alle Manipulationen, mit denen Russland vorgibt, die Zustimmung der Bewohner der von ihm besetzten Gebiete einzuholen, kategorisch anprangert. Wenn der Europarat die Ukraine auffordern muss, ihren Verpflichtungen als Mitgliedstaat treu zu bleiben, dann wird er gehört werden.

Am 10. Oktober wird Bundespräsident Cassis vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats auftreten. Welche Themen stehen bei diesem Anlass im Zentrum?

Der Bundespräsident wird eine Rede vor der Parlamentarischen Versammlung halten und mit ihrem Präsidenten sprechen; er wird auch mit der Generalsekretärin und dem Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zusammentreffen. In seiner Ansprache an die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung wird der Bundespräsident die Bedeutung hervorheben, die die Schweiz dem Europarat beimisst, und die weitere Unterstützung der Schweiz für dessen Arbeit zusichern. Er wird auf die Notwendigkeit hinweisen, dass alle Mitgliedstaaten die Autorität des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte respektieren und die Umsetzung der sie betreffenden Urteile sicherstellen. Er wird sicherlich auch die Gelegenheit nutzen, um seine Haltung zu den Plänen im Hinblick auf ein nächstes Gipfeltreffen der Organisation darzulegen.

Letztmals besuchte mit Flavio Cotti vor 31 Jahren ein Schweizer Bundespräsident den Europarat. Was ist der Grund, dass nun wieder ein Bundespräsident in Strassburg auftritt?

Man könnte sich fragen, weshalb so lange keine Bundespräsidentin bzw. kein Bundespräsident mehr in Strassburg war. Auf jeden Fall ist der Zeitpunkt gut gewählt. Wenn man bedenkt, dass Bundespräsident Cotti in den letzten Monaten der UdSSR und an einem Wendepunkt, an dem in Europa die Aussicht auf einen breiteren Rückhalt für die demokratischen Freiheiten bestand, vor der Versammlung auftrat, so ist jetzt der Moment gekommen, um Bilanz zu ziehen und einen Schritt weiter zu gehen angesichts einer Gefahrenlage, in der die Organisation als Garantin der Menschenrechte und der Demokratie in Europa mehr Unterstützung braucht.

Die aktive Präsenz von Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentariern in den Ausschüssen und Organen der Parlamentarischen Versammlung ist ein Pluspunkt für die Sichtbarkeit und Glaubwürdigkeit der Schweiz und trägt zur Erreichung ihrer Ziele bei.

Herr Meuwly, Sie sind der Ständige Vertreter der Schweiz beim Europarat. Auf parlamentarischer Ebene ist die Schweiz auch durch die Parlamentarierdelegation beim Europarat vertreten. Wie funktioniert der Austausch mit den Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentariern? Und gibt es allenfalls eine institutionalisierte Zusammenarbeit?

Der Ständige Vertreter ist der Delegierte des Aussenministers und nimmt an den Sitzungen des Ministerkomitees, dem Entscheidungsorgan der Organisation, teil. Die Zusammenarbeit zwischen dem Ministerkomitee und der – laut Satzung beratenden – Parlamentarischen Versammlung hat sich seit 2018, beginnend mit der Amtszeit der Schweizerin Liliane Maury Pasquier als Präsidentin der Versammlung, verbessert und vertieft. Die Zusammenarbeit in der Schweizer Parlamentarierdelegation war immer ausgezeichnet, bei den Vorbereitungstreffen in Bern, an denen ich teilnehme, ebenso wie bei den Kontakten in Strassburg sowie zwischen den Sitzungen. Die aktive Präsenz von Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentariern in den Ausschüssen und Organen der Parlamentarischen Versammlung ist ein Pluspunkt für die Sichtbarkeit und Glaubwürdigkeit der Schweiz und trägt zur Erreichung ihrer Ziele bei.

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