«Wir lassen uns nicht spalten»

Die Rede des neu gewählten Bundespräsidenten Ignazio Cassis im Wortlaut.

08.12.2021
EDA
Bundespräsident Ignazio Cassis steht am Rednerpult und spricht zur Vereinigten Bundesversammlung.

Der neu gewählte Bundespräsident Ignazio Cassis bei seiner Rede zur Annahme der Wahl. © Keystone

Die Rede ist auch in rätoromanischer Sprache verfügbar.

Sehr geehrte Frau Präsidentin der Vereinigten Bundesversammlung

Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident

Sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung

Sehr geehrte Herren Staatsräte des Kantons Tessin

Liebe Familienangehörige und Freunde

Sehr verehrte Gäste

Herzlichen Dank für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Es ist mir eine grosse Ehre, das Amt des Bundespräsidenten zu übernehmen. Ich bin mir der Verantwortung bewusst, die damit verbunden ist.

Als erstes möchte ich ein paar Worte an den scheidenden Bundespräsidenten Guy Parmelin richten und seine Arbeit würdigen. Herzlichen Dank, Herr Bundespräsident, lieber Guy! In einer Zeit der grossen Ungewissheit ist es Ihnen gelungen, ein offenes Ohr für alle in diesem Land zu haben. Sie haben zudem Ruhe, Bescheidenheit und Kompromissfähigkeit bewiesen.

Die Krise wird enden

Sehr geehrte Damen und Herren

Die Corona-Pandemie begleitet uns nun schon seit zwei Jahren. Wir sind alle davon betroffen: unabhängig von unserer Funktion, unserer sozialen Herkunft oder unserer Sprachzugehörigkeit. Die Pandemie macht deutlich, wo die Trennlinien verlaufen: zwischen Kranken und Gesunden, Jungen und weniger Jungen, Geimpften und Nichtgeimpften, Zentralisten und Föderalisten.

Die Pandemie hat uns auseinandergetrieben, aber sie hat uns nicht gespalten. Wir lassen uns nicht spalten.

Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig uns das Thema Freiheit ist. Die Freiheit steht nicht umsonst im Zentrum unserer Bundesverfassung. Sie ist unser höchstes Gut. Doch mit Freiheit geht auch Verantwortung einher: Verantwortung gegenüber der Schöpfung, gegenüber künftigen Generationen, Verantwortung gegenüber den Schwächsten unserer Gesellschaft.

Die Pandemie verlangt Geduld… sie verlangt viel Geduld.

Wird diese Pandemie je enden? Meine Damen und Herren, das Virus wird bleiben, aber die Krise wird ein Ende haben. Der Kampf zwischen Mensch und Mikroben begleitet uns seit Anbeginn der Zeit. Aber wir Menschen haben es immer geschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Wir werden es auch dieses Mal schaffen.

In den letzten zwei Jahren haben wir realisiert, wie verletzlich wir sind: als Menschen und als Land. Aber gerade in einer Zeit der Verletzlichkeit, der wachsenden Ungeduld und der drohenden Polarisierung, gerade in dieser Zeit müssen wir uns darauf besinnen, was uns verbindet, was den nationalen Zusammenhalt ausmacht. Was uns eint.

Der Reichtum der Vielfalt

Wir wissen alle, dass unsere Kohäsion und unsere Vielfalt eine ständige Herausforderung sind. Unsere unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Religionen und politischen Einstellungen erfordern einen Dialog, der manchmal aufwändig, unangenehm und auch kostspielig ist. Aber diese Herausforderung ist unser Motor, ist unsere Daseinsberechtigung.

Die Vielfalt lädt zur Bescheidenheit ein. Sie ist kein Luxus, sondern ein grosser Reichtum. Sie trägt dazu bei, gute Lösungen zu finden. Sie ist eine Quelle der Innovation.

Was für das Individuum gilt, gilt auch für unser Land: Vielfalt erfordert Energie, Engagement und Frustrationstoleranz. Vielfalt bedeutet, sich ständig in die Haut des anderen zu versetzen. Vielfalt heisst auch bereit sein, auf etwas zu verzichten, damit sich auch das Gegenüber bewegt. Das gilt nicht nur in der Europafrage.

Das Schweizer Volk und die Kantone haben sich eine Verfassung gegeben (ich zitiere):

« … im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben»

Diese Achtung der Vielfalt ist ein ständiger Akt des Willens. Sie hat uns im Laufe der Jahrhunderte Sicherheit, Wohlstand und Unabhängigkeit gesichert. Ich wünsche uns, dass dieser Akt des Willens auch 2022 gelebt wird.

Ich bin überzeugt: Jede Krise ist auch ein Ansporn, sich selber in Frage zu stellen, sich besser zu verstehen, auf andere zuzugehen und gemeinsam neue Ideen für die Gestaltung der Zukunft zu entwickeln. Vielfalt schafft Ideenreichtum. Durch Pluralität entsteht Innovation. Es ist kein Zufall, dass die Schweiz eines der innovativsten Länder der Welt ist.

Wir lassen uns nicht trennen

Geschätzte Damen und Herren

Die Pandemie hat uns auseinandergetrieben, aber sie hat uns nicht gespalten. Wir lassen uns nicht spalten.

Das Jahr 2022 soll im Zeichen des Zuhörens, des Ausgleichs zwischen den verschiedenen Gruppen und der Kreativität stehen, damit wir uns noch besser kennenlernen und noch vereinter auftreten können.

Ich möchte abschliessend meiner Familie, meinen Freunden und insbesondere meiner Frau Paola danken. Vielen Dank für eure Unterstützung und eure Geduld während dieses Präsidialjahres.

Den Anwesenden im Saal danke ich für Ihr Vertrauen und für Ihre Aufmerksamkeit – heute und in den nächsten Monaten.

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