Die Schweiz und das IKRK bereiten sich auf die Herausforderungen der Digitalisierung vor
Die Schweiz und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) sind langjährige Partner. Ihr humanitäres Engagement wird von den gleichen Grundsätzen geleitet: Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Um für die globalen Herausforderungen und die zunehmende Digitalisierung gerüstet zu sein, unterzeichneten sie am 27. November 2020 ein Protokoll zur Änderung des Abkommens über die rechtliche Stellung des IKRK in der Schweiz. Was bedeutet das?
Das IKRK hat seinen Sitz und seine Archive in Genf. © Keystone
Drehen wir die Zeit zurück: Kigali, Ruanda, 6. April 1994, ein Land im Bürgerkrieg zwischen Hutu- und Tutsigemeinschaften. An jenem Apriltag wurde Präsident Juvénal Habyarimana Opfer eines Anschlags. Er war gerade von Tansania zurückgekehrt, wo er einer Reihe von Abkommen zugestimmt hatte, die einen Friedensprozess einleiten sollten.
Nur einige Minuten nach dem Attentat rief der Radiosender «Radio Télévision Libre Mille Collines» (RTLM) mit einer spürbaren Euphorie zu einer wahren Politik der verbrannten Erde auf. Es war kein offizieller Aufruf. Über den Äther wurden die Identität und der Wohnort von Tutsis verbreitet, die sich noch im Land befanden. Das Radio hat sie buchstäblich zum Tode verurteilt. Die Bekanntabe von schützenswerten Personendaten hat vor allem am Anfang den Völkermord begünstigt.
Was würde passieren, wenn im heutigen Zeitalter der neuen Technologien, also über zwanzig Jahre danach, solche schützenswerte Daten erneut in die falschen Hände gerieten? Was wäre, wenn die von den humanitären Organisationen gespeicherten und geschützten biometrischen, medizinischen, familiären, religiösen oder geografischen Daten von verfolgten Menschen in Konflikt- oder Krisengebieten wie Syrien, Myanmar, die Demokratische Republik Kongo oder Niger an die Öffentlichkeit gelangen würden? Der Verlust der Vertraulichkeit dieser hochsensiblen Daten würde zweifelsohne zu einer noch gezielteren Unterdrückung dieser Bevölkerungsgruppen führen.
Das IKRK arbeitet mit sensiblen Daten von Opfern
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit Sitz in Genf und wichtigster Partner der Schweiz im Bereich der humanitären Hilfe ist mit dieser Problematik konfrontiert. Aufgrund seines Mandats agiert es in schwierigen und komplexen Kontexten. In mehreren fragilen Regionen sammelt und bearbeitet es eine beträchtliche Menge von Daten von Opfern und andere äusserst sensible Informationen. Dank diesen Daten kann es seine Hauptaufgabe wahrnehmen: Schutz und Unterstützung von Opfern bewaffneter Konflikte und anderer Gewaltsituationen sowie Förderung des humanitären Völkerrechts.
«Im Rahmen seines Mandats muss das IKRK Informationen über die Lage in seinen Einsatzgebieten sammeln. Das IKRK ist in sehr komplexen Kontexten tätig, in denen es auf eine Zusammenarbeit mit allen Akteuren eines Konflikts angewiesen ist. Es muss ihr Vertrauen gewinnen und ihnen die Sicherheit geben, dass die Informationen, die es für seine Arbeit zum Schutz der Opfer braucht, nicht gegen sie verwendet werden, namentlich durch die anderen Konfliktparteien», erklärt Corinne Cicéron Bühler, Botschafterin und Direktorin der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departements für a
Das IKRK und die Schweiz verfolgen die gleichen humanitären Werte. Beide wollen diese Daten besser schützen, insbesondere auch im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung. Die Digitalisierung stellt zudem einen Schwerpunkt der Schweizer Aussenpolitik dar.
Änderung des IKRK-Sitzabkommens in der Schweiz
Die Schweiz hat mit dem IKRK ein Sitzabkommen abgeschlossen, das es der Organisation erlaubt, sich auf ihrem Hoheitsgebiet für die Opfer von Konflikten einzusetzen. Dieses Abkommen verleiht dem IKRK eine besondere rechtliche Stellung. Es gewährleistet seine volle Unabhängigkeit und günstige Bedingungen für die Erfüllung seines internationalen Mandats. Das 1993 abgeschlossene Abkommen wurde zum ersten Mal revidiert und tritt am 27. November 2020 in Kraft.
«Das Abkommen von 1993 wurde den neuen Herausforderungen des IKRK nicht mehr gerecht», unterstreicht die Direktorin der Direktion für Völkerrecht. «Die Schweiz hat es an die Anforderungen der Digitalisierung und die neuen Gegebenheiten des IKRK angepasst, gleichzeitig aber den soliden rechtlichen Rahmen von 1993 beibehalten.»
Eine Revision, die von den konkreten Bedürfnissen ausging
Die Digitalisierung erlaubt es dem IKRK, noch näher an die gefährdeten Bevölkerungsgruppen heranzukommen und sie noch gezielter zu unterstützen. Das neue Abkommen berücksichtigt die Entwicklungen des IKRK der letzten Jahrzehnte, namentlich in den Bereichen Digitalisierung von Aktivitäten und Personalmanagement und -zusammensetzung. Das IKRK braucht selber auch mehr Schutz, um seine Aktivitäten durchführen zu können, insbesondere was seine Archive (Dokumente und andere Daten), Mitteilungen und sensiblen Informationen betrifft. Das revidierte Sitzabkommen verstärkt diesen Schutz.
Das IKRK legt grossen Wert auf sein Personal. Die gefährdeten Bevölkerungsgruppen könnten ohne das unermüdliche Engagement der Personen, die für das IKRK arbeiten – oft unter extremen Bedingungen und manchmal unter Lebensgefahr –, nicht unterstützt werden. Sie sind auf einen zuverlässigen Arbeitgeber angewiesen, der sie unterstützt und ihnen eine angemessene Altersvorsorge bietet. Die nun verabschiedeten Massnahmen gehen in diese Richtung und berücksichtigen die starke Diversifizierung der Personalstruktur der Organisation.
«Mit der Erneuerung des Sitzabkommens reagiert die Schweiz auf die Bedürfnisse des IKRK und stärkt dadurch die gegenseitigen Beziehungen. Gleichzeitig trägt sie dazu bei, dass das IKRK sein internationales Mandat erfüllen kann», betont Corinne Cicéron Bühler. Für sie könnte dieses revidierte Abkommen als Modell für weitere Abkommen dienen, die das IKRK mit anderen Staaten abschliesst.
Unterzeichnung in Bern
Bundesrat Ignazio Cassis und IKRK-Präsident Peter Maurer unterzeichneten das Protokoll zur Änderung des Abkommens über die rechtliche Stellung des IKRK in der Schweiz am 27. November 2020 anlässlich einer offiziellen Feier in Bern.