«Wir müssen alle hart arbeiten, nur gemeinsam können wir es schaffen»

Am Montagabend war Bundesrat Ignazio Cassis zu Gast in der Sendung «60 Minuti» auf RSI. Der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sprach dabei über die Bedeutung des Föderalismus in der Schweiz und der vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Unter anderem seien die persönliche Verantwortung und die gegenseitige Solidarität entscheidende Faktoren im Kampf gegen die Pandemie.

03.11.2020
Fotomontage mit Ignazio Cassis, der in die Kamera schaut, und zwei Sprechblas-Icons mit Fragezeichen und Antwort zur Darstellung eines Interviews.

Im Interview mit RSI spricht Bundesrat Ignazio Cassis über die aktuelle COVID-19-Krise und die Bedeutung des föderalistischen Systems der Schweiz. © EDA

Die Pandemiesituation in der Schweiz hat sich in den letzten Tagen weiter verschärft. Neben Genf haben mit dem Jura und Neuenburg zwei weitere Kantone beschlossen, Bars, Restaurants und Kulturstätten zu schliessen. Gleichzeitig warnen die Experten vor einer Überlastung der Bettenkapazität in Schweizer Spitälern. Angesprochen auf die Zurückhaltung des Bundesrates beim Beschliessen von Massnahmen betont Bundesrat Ignazio Cassis im Interview mit RSI die Polarisierung der Gesellschaft. «Einige halten die jüngsten Massnahmen für zu zaghaft, andere sind der Meinung, dass wir zu weit gehen. Die Realität liegt wohl in der Mitte. Wir sind mitten in einer Pandemie. Wir müssen sie ernst nehmen, ohne dabei zu übertreiben, zu dramatisieren oder gar in Defätismus zu verfallen.»

Ging es im Frühjahr noch darum, die Ängste der Menschen einzudämmen, so müssen wir uns heute angesichts einer sich immer weiter hinziehenden Situation mehr mit ihrer Skepsis und Erschöpfung der Menschen auseinandersetzen.

Der Vorsteher des EDA weist zudem auf die grundlegenden Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Welle hin. Einerseits sei das Pflegeperson heute besser in der Lage, sich gegen eine inzwischen besser bekannte Krankheit zu wehren, andererseits sei die Sterblichkeit tiefer als noch im Frühjahr. Gleichzeitig haben sich aber auch die Herausforderungen verändert. «Ging es im Frühjahr noch darum, die Ängste der Menschen einzudämmen, so müssen wir uns heute angesichts einer sich immer weiter hinziehenden Situation mehr mit ihrer Skepsis und Erschöpfung der Menschen auseinandersetzen», erklärt Ignazio Cassis. Dabei spielen auch Politiker eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, sich nicht zu sehr aufzuregen und einen kühlen Kopf zu bewahren: «Die Schweiz wird dieses Virus auf jeden Fall besiegen.»

Im Herzen liberal

Ist der Bundesrat gespalten? «Der Bundesrat repräsentiert die Bandbreite aller Ansichten und Trends, die die gesamte Bevölkerung betreffen», erklärt Ignazio Cassis. Der Bundesrat betont zudem, dass die Schweiz im Herzen liberal ist. «Liberale Prinzipien sind in unserem Land tief verwurzelt – wie die Meinungsfreiheit oder die Bewegungsfreiheit. Genau das ist, was den Protesten eines Teils der Gesellschaft gegen restriktive Massnahmen Leben einhaucht.» Ignazio Cassis betont dann auch, dass die Schweiz nicht komplett stehen bleiben kann. «Man kann die Gesellschaft nicht völlig blockieren. Die Lösung darf nicht schlimmer sein, als das Problem selbst.»

Die Gesellschaft darf nicht stillstehen, sie darf sich gleichzeitig aber auch nicht aufspalten. In diesem Sinne appelliert Bundesrat Cassis an die Eigenverantwortung der Menschen. «Wir haben viele Instrumente, die uns helfen, den Verlauf von Infektionen zu verlangsamen, aber die Solidarität der Menschen untereinander ist wichtig. Wir können das Virus nur bekämpfen, wenn wir solidarisch sind.» 

Verteidigung des Föderalismus

Konfrontiert mit den teilweise drastischen Entscheidungen in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Grossbritannien verweist Bundesrat Cassis auf das föderalistische System der Schweiz. Während man sich in Frankreich mit dem Präsidialsystem an Entscheidungen von oben gewöhnt ist, ist die Schweiz bestrebt, ihre Kultur des politischen Pluralismus auch in schwierigen Zeiten zu leben. «Natürlich beobachten wir die Reaktionen unserer Nachbarländer, aber wir sind uns auch bewusst, dass es Unterschiede in der politischen Kultur und Tradition gibt. Es gibt keinen Zauberstab, um das Problem zu lösen. Wir müssen alle hart arbeiten, nur gemeinsam können wir es schaffen», betont Ignazio Cassis. Dabei wird auch über die Vielfalt der kantonalen Entscheide diskutiert. «Es liegt nicht in der Natur das Schweiz, sich über die Wünsche und Entscheide der Kantone, so unterschiedlich sie auch sein mögen, hinwegzusetzen. Um diese Pandemie zu bekämpfen, müssen wir ein Gleichgewicht finden zwischen dem individuellen Empfinden und den föderalistischen Möglichkeiten», erklärt der Vorsteher des EDA und betonte gleichzeitig, dass es sich hierbei um einen Meinungspluralismus handelt, «auf den wir stolz sein sollten.» 

Wir haben viele Instrumente, die uns helfen, den Verlauf von Infektionen zu verlangsamen, aber die Solidarität der Menschen untereinander ist wichtig. Wir können das Virus nur bekämpfen, wenn wir solidarisch sind.

Besteht in der aktuellen Situation auch die Möglichkeit, dass die Eidgenossenschaft zur «Aussenordentlichen Lage» des Frühjahres zurückkehrt? «Der Bundesrat schliesst es nicht aus», erklärt Ignazio Cassis. «Wenn die Kantone nicht mehr über die Mittel verfügen, um das Virus selbst zu bekämpfen, können sie sich auf den Bund verlassen. In einem solchen besonderen Fall wird der Bundesrat die notwendigen Massnahmen ergreifen. Bis anhin hat uns dieser Hilferuf seitens Kantone noch nicht erreicht.» Bundesrat Cassis endet sein Interview wie folgt: «Von einer Gesundheitskrise dieses Ausmasses kann nicht erwartet werden, dass sie spurlos an uns vorbeigeht. COVID-19 wird jedoch nichts an den Instrumenten ändern, die dem Bund zur Verteidigung der Interessen seiner Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stehen, auch nicht in Bezug auf wirtschaftliche Unterstützung.»

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