Untersuchung von Kriegsverbrechen in der Ukraine

In Butscha und weiteren Orten in der Ukraine gibt es klare Hinweise auf Kriegsverbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof geht entsprechenden Berichten nach. Die Schweiz unterstützt diese Untersuchung. Fragen und Antworten zur Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs und zur Durchführung einer solchen Untersuchung.

Drei Gräber mit Holzkreuzen und Namen sind im Vordergrund zu sehen. Im Hintergrund stehen grosse Häuser.

Drei Gräber von Menschen, die in Butscha erschossen worden sind. Die Schweiz fordert, dass Hinweise auf Kriegsverbrechen von unabhängigen Organisationen untersucht werden. © Keystone

«Bewaffneter Konflikt», «Zivilpersonen», «Kriegsverbrechen»

Wie definiert das humanitäre Völkerrecht diese und weitere Begriffe? Welche Bedeutung haben sie im Rahmen der internationalen Strafjustiz? Ein Glossar gibt Auskunft.

Glossar – Humanitäres Völkerrecht und internationale Strafjustiz (PDF, 11 Seiten, 507.5 kB, Deutsch)

Was sagt das EDA zu Anschuldigungen, dass es in Butscha und an anderen Orten in der Ukraine zu Kriegsverbrechen gekommen ist?

Bundespräsident Cassis und das EDA sind zutiefst betroffen über die grauenhaften Bilder aus Butscha und Berichte aus weiteren Orten in der Ukraine. Sie geben Hinweise auf mutmassliche Kriegsverbrechen. Die Schweiz verurteilt Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte aufs Schärfste. Hinweise darauf müssen unabhängig untersucht und strafrechtlich verfolgt werden, um so den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen. Dies ist Voraussetzung für einen nachhaltigen Frieden. Die Schweiz unterstützt solche Untersuchungen aktiv.

Was verbietet das humanitäre Völkerrecht konkret?

Das humanitäre Völkerrecht schützt die Opfer von bewaffneten Konflikten und schränkt die Mittel und Methoden der Kriegsführung ein. Gezielte und unterschiedslose Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte sind verboten. Zu den unterschiedslosen Angriffen gehört zum Beispiel der Einsatz von Streumunition und anderer explosiver Munition in bewohnten Ortschaften, denn deren Auswirkungen sind in dieser Umgebung unkontrollierbar und können nicht gegen ein begrenztes militärisches Ziel gerichtet werden. Das humanitäre Völkerrecht fordert ausserdem, dass Kriegsgefangene und andere Internierte geschützt und mit Menschlichkeit behandelt werden.

Das EDA fordert eine unabhängige internationale Untersuchung der Gräueltaten von Butscha und nennt in diesem Zusammenhang den Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Welche Rolle kann der ICC hier spielen?

Der ICC hat bereits eine Untersuchung der Situation in der Ukraine eingeleitet. Ein Ermittlerteam sammelt Beweismittel und wertet diese aus. Der ICC geht in seiner Untersuchung glaubhaften Anschuldigungen von Kriegsverbrechen und anderen Völkerrechtsverbrechen nach. Der Chefankläger beurteilt unabhängig und unparteiisch, welchen Hinweisen er nachgeht. Der ICC kann aber nur Individuen strafrechtlich verfolgen, nicht Staaten

Kann der ICC Präsident Putin anklagen? Wer entscheidet darüber?

Der Chefankläger kann in der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen. Wenn der Chefankläger Beweise für eine Täterschaft des russischen Präsidenten findet, könnte er ihn anklagen und einen Haftbefehl erlassen. Sollte es zu einem Haftbefehl kommen, könnte der ICC diesen jedoch nicht selbst durchsetzen (er hat z.B. keine eigene Polizei), sondern wäre auf die Kooperation der Mitgliedstaaten angewiesen. Diese sind verpflichtet, einen Haftbefehl des ICC umzusetzen.

Was braucht es, damit der Internationale Strafgerichtshof eine Untersuchung einleitet? Reicht dazu z.B. ein Antrag der Schweiz?

Die Schweiz kann wie jeder andere der 123 Vertragsstaaten dem ICC eine Situation zur Untersuchung überweisen. Sie hat es auch getan: Am 2. März 2022 hat sie zusammen mit 40 weiteren Staaten die Situation in der Ukraine an den ICC übermittelt. Dadurch konnte der Chefankläger sofort mit der Untersuchung beginnen. Dies war auch ein Signal der Staaten, dass Kriegsverbrechen nicht ungestraft bleiben dürfen. Der Chefankläger kann auch aus eigener Initiative eine Untersuchung in einem Vertragsstaat beginnen, dieser Prozess dauert jedoch länger. In beiden Fällen ist die Voraussetzung, dass ein betroffener Staat die Zuständigkeit des ICC akzeptiert.

Darüber hinaus kann auch der UNO-Sicherheitsrat den ICC mit einer Untersuchung beauftragen. Im aktuellen Fall ist dies aufgrund der russischen Vetomacht unrealistisch.

Gehören Russland und die Ukraine auch zu den Vertragsstaaten des ICC?

Nein, weder Russland noch die Ukraine haben das Römer Statut ratifiziert, das die Grundlage des ICC ist. Die Ukraine hat aber nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim die Zuständigkeit des ICC durch eine Erklärung anerkannt. Deshalb kann der ICC Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und rein theoretisch auch Völkermord untersuchen, wenn sie nach November 2013 in der Ukraine begangen wurden. Zunächst konzentrierten sich die Ermittlungen des Chefanklägers auf die Situation in der Krim und in der Ostukraine, jetzt weitete er sie auf die gesamte Ukraine aus.

Wie lange dauert eine solche Untersuchung?

Das lässt sich nicht voraussagen, sie können mehrere Jahre dauern. Der Chefankläger des ICC hat aber bereits ein Ermittlerteam in die Ukraine geschickt. Das Team untersucht Verbrechen, die seit 2013 begangen wurden. Das EDA geht davon aus, dass es auch die Situation in Butscha untersucht. Auch der Chefankläger selbst reiste Anfang März 2022 in die Ukraine und nach Polen. Wenn der Chefankläger einmal genügend Beweise hat, wird er Haftbefehle ausstellen. Ein Prozess beginnt erst, wenn die mittels Haftbefehl gesuchten Personen dem ICC überstellt sind.

Könnten auch Expertinnen und Experten aus der Schweiz in eine solche Untersuchung involviert werden?

In der Schweiz etablierte die Bundesanwaltschaft eine Task-Force zur Ukraine und zu Russland mit Fokus u.a. auf dem Völkerstrafrecht. Diese hat – in enger Zusammenarbeit mit fedpol und dem SEM – Massnahmen ergriffen, um allfällige Informationen und Beweismittel über Völkerrechtsverbrechen zu erheben und zu sichern. Die Task-Force steht auch im Austausch mit dem ICC.

Hat der Internationale Strafgerichtshof in anderen Situationen schon Untersuchungen durchgeführt – und wenn ja: wo und mit welchem Resultat?

Der ICC ist grundsätzlich für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression, somit die schwersten Verbrechen überhaupt, zuständig und verfolgt Einzelpersonen. Momentan befasst er sich mit 20 Situationen weltweit, es gibt 22 aktive Fälle. In der Vergangenheit sprach der ICC einzelne Personen schuldig, andere wurden freigesprochen. Der ICC hat bewiesen, dass er unabhängig ist und hohe strafrechtliche Standards einhält.

Gibt es neben dem Internationalen Strafgerichtshof noch andere Institutionen, die eine solche Untersuchung durchführen könnten?

In erster Linie sind die Staaten selbst zuständig, Kriegsverbrechen nach internationalen Standards zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Der ICC ist lediglich subsidiär zuständig, wenn die betroffenen Staaten nicht willens oder in der Lage sind, die Strafverfolgung selbst durchzuführen.

Darüber hinaus gibt es internationale Untersuchungsmechanismen, die z.B. Beweise sammeln und diese zuständigen nationalen und internationalen Rechenschaftsmechanismen wie dem ICC zur Verfügung stellen. Der UNO-Menschenrechtsrat zum Beispiel hat eine Untersuchungskommission zur Ukraine geschaffen. Diesen Vorstoss hat die Schweiz in der Sondersession des Menschenrechtsrats unterstützt.

Die Schweiz unterstützte auch die Aktivierung des Moskauer Mechanismus in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der ebenfalls Beweise für Kriegsverbrechen in der Ukraine sammelt und diese der nationalen und internationalen Strafverfolgung (z.B. ICC) zur Verfügung stellt. Darüber hinaus unterstützt die Schweiz auch weiterhin die bereits seit 2014 bestehende UN Human Rights Monitoring Mission in Ukraine. Sie ist vor Ort im Einsatz und untersucht Verletzungen der Menschenrechte.

Mittlerweile steht hinsichtlich der Kriegsverbrechen in der Ukraine der Vorwurf des Völkermords im Raum. Was ist die Position der Schweiz hierzu? 

Die Bewertung bestimmter Gräueltaten als «Völkermord» obliegt grundsätzlich Gerichten und internationalen Instanzen mit einem entsprechenden Mandat. Die Staatengemeinschaft hat den Begriff «Völkermord» in der Völkermord-Konvention von 1948 definiert. «Völkermord» erfordert einen spezifischen genozidären Vorsatz, der äusserst schwer zu beurteilen ist und eine hohe Hürde darstellt. Ein solcher Vorsatz muss grundsätzlich in einem unabhängigen und unparteiischen Verfahren nachgewiesen werden. Generell müssen Hinweise darauf unabhängig untersucht und strafrechtlich verfolgt werden, um so den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen.

Die Schweiz verurteilt jegliche Wortmeldungen, welche beispielsweise der Ukraine das Existenzrecht absprechen oder zur kollektiven Bestrafung von Teilen der ukrainischen Bevölkerung aufrufen. Wir rufen alle Verantwortlichen dazu auf, auf die Verbreitung von Hassrede sowie Desinformation zu verzichten, welche den Konflikt noch weiter schürt.

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