«Ernährungssysteme beeinflussen Klima, Wasser und Gesundheit – und umgekehrt»

Was braucht es, dass die Weltbevölkerung in Zukunft gesund und ausreichend ernährt werden kann? Die UNO widmet im September 2021 den Food Systems Summit der Diskussion über nachhaltige Ernährungssysteme, dank denen auch die biologische Vielfalt und das Klima geschützt werden. Zwischen März und Juni 2021 fanden zur Vorbereitung auch in der Schweiz nationale Dialoge statt. Nun wird in Rom Zwischenbilanz gezogen. Christine Schneeberger ist als Mitglied der Schweizer Delegation dabei.

26.07.2021
Eine Frau greift auf einem Marktstand in Afrika nach einer Flasche, um sie zu verkaufen.

Ein Markt in Nigeria: Händlerinnen und Händler verkaufen Peperoni, Früchte der Ölpalme, Textilien, Getränke und weitere Produkte an die lokale Bevölkerung. © International Institute of Tropical Agriculture (IITA)

Christine Schneeberger ist bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) stellvertretende Chefin des Bereichs Globale Zusammenarbeit, der unter anderem das Globalprogramm Ernährungssicherheit umsetzt. Am Vorbereitungsgipfel in Rom zum Food Systems Summit vertritt sie in der Schweizer Delegation die DEZA und stellt sich hier den Fragen von Kommunikation EDA.

Am Ernährungsgipfel (Food Systems Summit) wird im Herbst 2021 in New York darüber diskutiert, was es braucht, um Ernährungssysteme nachhaltig zu machen. Wie ist die Schweiz hier eingebunden, wie bereitet sie sich vor?

Von März bis Juni fanden in der Schweiz Gesprächsrunden statt: ein nationaler und drei Städtedialoge in allen drei Sprachregionen. Dabei diskutierten Vertreterinnen und Vertreter der Landwirtschaft, Wissenschaft und Privatwirtschaft sowie der Zivilgesellschaft mit der Verwaltung, um ein gemeinsames Verständnis zu finden.

Die Schweiz engagiert sich seit Jahren im Ausland für nachhaltige Ernährungssysteme. Deshalb hat die DEZA über ihr Netzwerk für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit zusätzliche, unabhängige Dialoge veranstaltet. Das Interesse war riesig: Rund 290 Teilnehmende aus 69 Ländern nahmen teil.

Porträt von Christine Schneeberger
Christine Schneeberger ist bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) stellvertretende Chefin des Bereichs Globale Zusammenarbeit. © DEZA

Und worüber wurde in diesen Dialogen genau diskutiert?

Zum Beispiel wie wir durch eine nachhaltige Landwirtschaft für alle Menschen gesunde und erschwingliche Lebensmittel zugänglich machen können. Oder wie die Existenzgrundlagen von Menschen in ländlichen Gebieten verbessert werden können. Für die Schweiz sind da natürlich auch die besonderen Herausforderungen der Bergbevölkerung ein Anliegen.

Wir stellen auch fest, dass sich junge Leute für Ernährungssysteme interessieren und sich für einen Wandel zu mehr Nachhaltigkeit einsetzen. Im Projekt «Bites of Transfoodmation», das wir gemeinsam mit der Schweizer Vertretung in Rom unterstützen, tauschen sich seit letztem Jahr junge Leute aus verschiedenen Ländern aus. Sie haben ein Manifest verfasst und wurden von der G20-Staaten eingeladen, bei ihrem «Food for Earth»-Anlass vorzusprechen, der letzte Woche in Neapel stattfand.

Als Vertreterin der DEZA sind Sie nun an einen dreitägigen Vorbereitungsgipfel nach Rom gereist. Was ist das Ziel dieser internationalen Konferenz?

Das Ziel in Rom ist, die besten Ideen und Lösungsansätze aus den bisherigen nationalen und weltweiten Diskussionen zusammenzubringen und gemeinsame Prioritäten zu definieren. Die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse werden besprochen, innovative Ansätze diskutiert und auch, dass Ernährungssysteme Klima, die Verfügbarkeit von Wasser und die Gesundheit beeinflussen und umgekehrt. Staaten können ihre neuen Transformationspläne darlegen. Man will öffentliche und private Investitionen mobilisieren. Im besten Fall kann ein gemeinsames Verständnis aller Akteurinnen und Akteure für nachhaltige Ernährungssysteme erreicht werden, welches auch der Privatsektor mitträgt.

Das Ziel in Rom ist, die besten Ideen und Lösungsansätze aus den bisherigen nationalen und weltweiten Diskussionen zusammenzubringen und gemeinsame Prioritäten zu definieren.

Was möchte die Schweiz in Rom erreichen?

Die Schweizer Delegation stellt den Transformationsplan der Schweiz zu einem nachhaltigeren Ernährungssystem vor. Bei diesem bringen wir unsere langjährige Expertise und Projekterfahrung ein. Wir hoffen, dass die internationale Politik darauf aufbauend Massnahmen ergreifen kann, die breit akzeptiert sind und die Rahmenbedingungen für nachhaltigere Ernährungssysteme schaffen. Diese müssen auch für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen anwendbar sein.

Weiter nutzen wir dieses Zusammenkommen aller wichtiger Akteurinnen und Akteure in Rom, um unsere prioritären Anliegen vorwärts zu bringen und strategische Koalitionen und Partnerschaften zu stärken oder zu bilden.

Grafik, die ein Ernährungssystem von der Produktion von Saatgut und Futter zur landwirtschaftlichen Produktion zur Verarbeitung und Verpackung über den Verkauf im Einzelhandel zum Konsum bis hin zur Abfallverwertung aufzeigt.
Ohne nachhaltige Ernährungssysteme können die nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 nicht erreicht werden. © EDA

Was genau ist ein «Nachhaltiges Ernährungssystem»?

Ein Ernährungssystem umfasst alle Bereiche sowie Akteurinnen und Akteure, die mit Nahrung zu tun haben: vom Saatgut zur Gabel und zurück zur Erde. Damit ein Ernährungssystem nachhaltig ist, müssen verschiedene Kriterien erfüllt sein: Die Menschen müssen wissen, wie sie sich gesund ernähren können, müssen gesunde Lebensmittel erhalten und sie sich auch leisten können. Andererseits müssen Lebensmittel so produziert werden, dass die Umwelt möglichst wenig belastet, der Klimawandel nicht verstärkt und die Biodiversität nicht reduziert wird. Ernteverluste und Lebensmittelverschwendung sollen so gering wie möglich gehalten werden. Die UNO-Nachhaltigkeitsziele 2 «kein Hunger» und 12 «nachhaltig produzieren und konsumieren» bringen diese Anliegen auf den Punkt.

Sustainable Development goals Agenda 2030
© EDA

Wir sprechen von einem Ernährungssystem, weil all diese Aspekte eng miteinander verflochten sind und sich gegenseitig beeinflussen – wie in einem Mobile. Ähnlich hängen auch lokale und internationale Ernährungssysteme voneinander ab. Dieses «Ernährungssystem-Mobile» ist durch Produktion und Konsum in eine beunruhigende Schräglage geraten, unter der insbesondere auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen im globalen Süden und die Umwelt massiv leiden. Nachhaltige Ernährungssysteme sollen hier wieder ein Gleichgewicht schaffen.

Warum sind nachhaltige Ernährungssysteme und Ernährungssicherheit für die DEZA wichtig?

Weil die Zahl der hungernden Menschen seit 2015 wieder ansteigt, nachdem sie während Jahrzehnten zurückgegangen war. Die COVID-19-Pandemie hat dies nun noch verschärft: Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass 270 Millionen Menschen in 79 Ländern von akuter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. Dies zeigt, dass die heutigen Ernährungssysteme nicht genügend gesunde und erschwingliche Lebensmittel für die Mehrheit der Menschen weltweit bereitstellen. Wir tragen durch unsere Programme im Feld zu Hungerreduktion und zu gesünderer Ernährung bei, und geben zum Beispiel knapp 100 Millionen Franken Jahresbeiträge ans Welternährungsprogramm. 

Ernährung ist der wirksamste Hebel, um gleichzeitig menschliche Gesundheit, Klima, Biodiversität, nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen – sprich die Gesundheit unseres Planeten – positiv zu beeinflussen.

Das Thema ist für die DEZA aber auch wichtig, weil es viele andere Bereiche tangiert: So leiden unsere heutigen Ernährungssysteme einerseits unter dem Klimawandel - sind aber gleichzeitig für einen Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Von den 1,4 Milliarden extrem armen Menschen leben schätzungsweise 70% in ländlichen Gebieten und die meisten von ihnen sind mindestens teilweise von der Landwirtschaft abhängig. Für die DEZA heisst das: Ernährung ist der wirksamste Hebel, um gleichzeitig menschliche Gesundheit, Klima, Biodiversität, nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen – sprich die Gesundheit unseres Planeten – positiv zu beeinflussen.

Die Schweizer Delegation wird vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) geleitet. Neben dem EDA sind weitere Akteurinnen und Akteure dabei. Wie funktioniert die Zusammenarbeit in der Delegation?

Sie funktioniert sehr gut! Zur Delegation gehören zum Beispiel auch das Bundesamt für Umwelt (BAFU), das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) sowie Vertreterinnen und Vertreter aus der Wissenschaft und Forschung, von Verbänden und dem Privatsektor. Die Zusammenstellung unserer Delegation widerspiegelt auch eines der Hauptanliegen des Ernährungsgipfels: Alle sollen zusammenkommen, um gemeinsam Lösungen zu finden, die Ernährungssysteme weltweit nachhaltiger machen. 

Die Zusammenstellung unserer Delegation widerspiegelt auch eines der Hauptanliegen des Ernährungsgipfels: Alle sollen zusammenkommen, um gemeinsam Lösungen zu finden, die Ernährungssysteme weltweit nachhaltiger machen.

Kommen sich da nicht verschiedene Interessen in die Quere?

Es ist ganz normal, dass die verschiedenen Interessen teilweise auseinandergehen. Aber der Wandel hin zu nachhaltigeren Ernährungssystemen kann nur erfolgen, wenn er von allen mitgetragen wird. Alle Interessensgruppen müssen von Anfang an mit an Bord sein. Genau dies tun wir in der Schweiz. Die meisten Schweizer Delegationsmitglieder sind übrigens auch Teil unseres nationalen Komitees der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und treffen sich vier Mal pro Jahr. Dabei hören wir einander zu, lernen voneinander, fördern gemeinsame Lösungsansätze und setzen diese miteinander um oder bringen sie in den globalen Diskurs ein. Ein anderes Beispiel unserer Zusammenarbeit ist eine Publikation zur Agrarökologie, die wir als Komitee verfasst und in diesen Frühling veröffentlicht haben.

Food Systems Summit

Die Konferenz zu den Ernährungssystemen (Food Systems Summit) soll die Umsetzung der Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung vorantreiben. Denn Ernährungssysteme umfassen alle Teilbereiche einer Gesellschaft, die in die Lebensmittelversorgung involviert sind (siehe auch Grafik): Vorleistungsprodukte wie Düngemittel oder Pestizide ebenso wie Anbau und Ernte, Verarbeitung und Verpackung, Transport und Vermarktung, Zubereitung und Verzehr, aber auch Abfall, der auf diesem Weg produziert wurde, oder die Energie und das Wasser, das verbraucht wurde. Werden Ernährungssysteme nachhaltig umgesetzt, wirkt sich dies folglich auch auf die verschiedenen Teilbereiche aus.

UNO-Generalsekretär António Guterres hat deshalb den Food Systems Summit für September 2021 in New York einberufen. 2019 erklärte er, dass die Welt in Bezug auf die Ziele der Agenda 2030 Rückschritte mache. Er rief deshalb zu einer «Decade of Action» auf. «Ernährungssysteme sind mit jedem der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung verknüpft», sagt Jacques Ducrest, der Delegierte des Bundesrates für die Agenda 2030. Fortschritte auf dem Weg zu nachhaltigen Ernährungssystemen sind daher wichtig, damit die Ziele der Agenda bis 2030 erreicht werden können.

Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung formuliert unter anderem Ziele wie «Kein Hunger», «Gesundheit und Wohlergehen», «Geschlechtergleichheit», «Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen», «Industrie, Innovation und Infrastruktur», «Verantwortungsvoller Konsum und Produktion» oder «Massnahmen zum Klimaschutz».

Projekt «Bites of Transfoodmation»

Auch für die G20, die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, sind nachhaltige Ernährungssysteme wichtig. An der Ministerkonferenz der G20 für Umwelt, Energie und Klima, die die italienische Regierung am 22. und 23. Juli 2021 in Neapel organisiert hat, standen verschiedene Anlässe zum Thema «Nahrung für die Erde» («Food For Earth») auf dem Programm.

Mit dabei: das Schweizer Projekt «Bites of Transfoodmation». Es wurde von der Ständigen Mission der Schweiz bei der UNO in Rom, der Schweizer Botschaft in Rom, dem Istituto Svizzero, der Università della Svizzera Italiana in Lugano und von Präsenz Schweiz lanciert. Ziel des Projekts ist es, den Austausch und Diskussionen zwischen jungen Menschen zu fördern, wie der Übergang zu Ernährungssystemen möglich ist, die nachhaltig und krisenbeständig sind und an denen alle Menschen teilhaben können. Nahrung kann nicht länger ein Thema sein, das nur das Essen betreffe – es ist zentrales Element von Kultur und Gesundheit, so das Credo des Projekts. Im Hinblick auf den Food Systems Summit vom September 2021 in New York organisiert «Bites of Transfoodmation» verschiedene Anlässe, etwa Workshops und Diskussionsrunden, mit Studierenden, Forschenden, Landwirten, Architektinnen, Ernährungsspezialisten, Sportlerinnen, Akteurinnen und Akteuren der Ernährungsbranche und Konsumentinnen und Konsumenten. «Diejenigen, die Ideen haben, haben nicht immer auch den Zugang zu den Institutionen oder Finanzierungsmöglichkeiten», sagt Pio Wennubst, der Ständige Vertreter der Schweiz bei der UNO in Rom. «Wir wollen mit dem Projekt die Verbindungen ermöglichen, damit Wandel entstehen kann.» Er nahm an der G20-Konferenz in Neapel an einem Panel von «Bites of Transformation» teil, an dem das Projekt den anwesenden Ministerinnen und Ministern vorgestellt wurde.

Im Rahmen von «Bites of Transfoodmation» soll ein Manifest entstehen, das konkrete Massnahmen für die Entwicklung nachhaltiger Ernährungssysteme umfasst. Dieses Manifest wird am Food Systems Summit präsentiert werden. 

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