«Die Schweiz lässt die Menschen nicht im Stich»

Ein Jahr nach dem abrupten Machtwechsel in Afghanistan haben sich die Lebensumstände vieler Menschen im Land, namentlich von Frauen und Mädchen, unter den Taliban verschlechtert. Auch das Schweizer Kooperationsbüro in Kabul wurde aus Sicherheitsgründen vorübergehend geschlossen. Doch die der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) ist weiterhin in Afghanistan aktiv und kann sich dabei auf bestehende Netzwerke stützen, sagt Walburga Roos.

Ein Mädchen sitzt auf einem Stein und liest in einem Buch. Neben ihr eine Tasche von UN Women. Im Hintergrund einfache Wohnungen.

Frauen leiden besonders unter der humanitären Krise in Afghanistan. Die DEZA unterstützt verschiedene Projekte, die darauf ausgerichtet sind, die Lebenssituation für Frauen und Mädchen zu verbessern. Gemeinsam mit der UNO-Organisation UN Women stärken wir unter anderem lokale Frauenorganisationen in Afghanistan. © Keystone

Walburga Roos sitzt an einem Tisch vor einem Mikrofon und lächelt.
Walburga Roos Chefin der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) für Afghanistan war bis zum Machtwechsel vor einem Jahr Leiterin des Schweizer Kooperationsbüros in Kabul. © EDA

Frau Roos, vor einem Jahr haben die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen. Das hat beim EDA grosse Anstrengungen ausgelöst, das Personal des Schweizer Kooperationsbüros zu evakuieren. Kann man heute sagen, dass alle damaligen Mitarbeitenden in Sicherheit sind?

Ja, das kann man sagen. Der Machtwechsel kam sowohl für die internationale Gemeinschaft als auch für die Menschen vor Ort überraschend schnell. Während drei Wochen standen rund 80 Leute im In- und Ausland im Einsatz, um unter schwierigsten Bedingungen die Evakuierung von lokalen Mitarbeitenden durchzuführen. Heute sind unserer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen und ihre engsten Familienangehörigen in der Schweiz in Sicherheit.

Was kann die DEZA in Afghanistan konkret tun, wenn das Kooperationsbüro in Kabul geschlossen ist?

Es wurden lediglich die Büroräumlichkeiten vor Ort aus Sicherheitsgründen vorübergehend geschlossen, aber die DEZA ist weiterhin in Afghanistan aktiv und beteiligt sich im Rahmen der internationalen Geberkoordination. Afghanistan ist und bleibt ein Schwerpunktland unserer internationalen Zusammenarbeit. Die zuständigen DEZA-Mitarbeitenden arbeiten von Bern aus ununterbrochen weiter und unterstützen die Menschen vor Ort – mit lokalen Partnern und gemeinsam mit internationalen Organisationen.

Die DEZA-Mitarbeitenden arbeiten von Bern aus und unterstützen die Menschen vor Ort – mit lokalen Partnern und gemeinsam mit internationalen Organisationen.

Wie muss man sich das konkret vorstellen? Wie kann die DEZA von der Schweiz aus den Menschen in Afghanistan helfen?

Natürlich gestaltet sich die Arbeit auf Distanz viel schwieriger. Wir müssen lokale Expertise einbeziehen, ohne uns auf Lokalpersonal verlassen zu können. Es ist auch umständlicher, ein Netzwerk aufzubauen, wenn man nicht permanent vor Ort ist. Aber die Schweiz ist in der internationalen Zusammenarbeit oft in fragilen Kontexten tätig und wir verfügen über die notwendige Flexibilität, um in Krisenzeiten handlungsfähig zu bleiben. In Afghanistan haben wir beispielsweise innert kürzester Zeit unsere Projekte angepasst.

Die Schweiz ist in der internationalen Zusammenarbeit oft in fragilen Kontexten tätig und wir verfügen über die notwendige Flexibilität, um in Krisenzeiten handlungsfähig zu bleiben.

Es gab Projekte, die wir umgehend einstellen mussten, weil sie auf Reformbemühungen der ehemaligen afghanischen Regierung ausgerichtet waren und auf enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien basierte. Andere Projekte konnten weitergeführt werden, mussten aber dahingehend angepasst werden, dass sie nicht mehr über staatliche Ministerien laufen, sondern vor allem die Zivilgesellschaft und Gemeinden stärken. Dann gab es bestehende Projekte mit lokalen, nicht staatlichen Partnern, die wir weiterführen können. Und zu guter Letzt unterstützen wir neue Initiativen.

Angepasste Projekte

Ein Projekt, welches angepasst wurde, bezieht sich beispielsweise auf die Ernährungssicherheit und die Förderung von Kleinbauern. Der Fokus des Programms liegt auf dem Management natürlicher Ressourcen, der Verringerung des Katastrophenrisikos, und auf dem Umgang mit den Folgen des Klimawandels. Wurde das Projekt vor dem Machtwechsel über die zuständigen Ministerien mitgeführt, arbeiten wir heute mit nicht staatlichen Akteuren zusammen. Auf die Zusammenarbeit mit dem zuständigen Ministerium wird verzichtet.

Weitergeführte Projekte

Ein Beispiel für ein bestehendes Projekt mit lokalen, nicht staatlichen Partnern, die die DEZA weiterführt, betrifft eine lokale NGO im Osten des Landes an der Grenze zu Pakistan, welche die DEZA seit zehn Jahren unterstützt. Die NGO fördert in enger Zusammenarbeit mit den Gemeinden und den Menschen vor Ort Projekte für eine nachhaltige Landwirtschaft. Dazu gehören ein nachhaltiger Umgang und die faire Verteilung von natürlichen Ressourcen. Damit werden neue Einkommens- und Lebensunterhaltsmöglichkeiten geschaffen, von denen sowohl Männer als auch Frauen profitieren und welche gleichzeitig die lokale Gemeinschaft stärkt.

Neue Initiativen

Frauen leiden besonders unter der humanitären Krise in Afghanistan. Sie werden immer mehr aus dem öffentlichen Raum gedrängt, weil sie keiner Arbeit mehr nachgehen können, ihre politischen Rechte nicht ausüben dürfen, und der Zugang zum sozialen Leben eingeschränkt wird. Neue Initiativen berücksichtigen deshalb – mehr noch als in der Vergangenheit – die spezielle Lebenssituation der Frauen und Mädchen. Die Schweiz unterstützt beispielsweise via die mandatierte UN-Organisation für Frauen (UN Women) lokale Frauenorganisationen in Afghanistan.

Welche besonderen Herausforderungen stellen sich der Internationalen Zusammenarbeit – und damit auch der Schweiz – in Afghanistan?

Afghanistan gehörte bis August 2021 zu den Ländern, die am meisten von ausländischer Hilfe abhängig waren. Rund 75 Prozent des afghanischen Staatsbudgets stammten aus internationalen Hilfsgeldern. Dieser Mittelfluss wurde am 15. August 2021 abrupt eingestellt. Die Mehrheit der neuen Minister steht auf internationalen Sanktionslisten, was dazu führt, dass de facto das ganze Land unter Sanktion steht. Das Finanzsystem Afghanistans ist in sich zusammengebrochen und das Vertrauen in den Bankensektor ist erschüttert. Für die DEZA bedeutet es, dass wir bei allen Finanztransaktionen noch vorsichtiger sein müssen, damit wir nicht gegen die Sanktionsregelungen oder Vorgaben bezüglich Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung verstossen. Hier ist es besonders wichtig, dass wir auf unser bestehendes Netzwerk vor Ort zurückgreifen können.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit konkret?

In den ersten Monaten nach der Evakuation war das natürlich schwierig: Die Situation war unübersichtlich, die Lage unsicher. Der Austausch mit lokalen und regionalen Partnern konnte nur digital erfolgen. Seit diesem Jahr können wir wieder für Kurzbesuche nach Afghanistan reisen. Diese Besuche sind für uns sehr wichtig. Einerseits helfen sie uns, eine differenzierte Analyse über die Lage vor Ort, über die Lebenssituation der Menschen und ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten zu erhalten. Andererseits sind solche Besuche wertvoll, um sich mit den lokalen und regionalen Organisationen zu treffen und Projektideen zu diskutieren und aufzugleisen. Dank solchen Netzwerken und den Kontrollmechanismen, die wir aufbauen, können wir anschliessend aus der Distanz sicherstellen, dass unsere Hilfe auch wirklich ankommt.

Unser oberstes Ziel in Afghanistan war und ist es, Leben zu retten und Armut zu lindern.

Die DEZA verbindet unmittelbare Hilfe mit längerfristiger Unterstützung. Welche Bereiche stehen für Sie hier im Vordergrund?

Unser oberstes Ziel in Afghanistan war und ist es, Leben zu retten und Armut zu lindern. Zudem hat sich die Schweiz in der Vergangenheit auch am Aufbau von starken staatlichen Strukturen beteiligt. Diesen Aspekt können wir im Moment nicht bearbeiten. Aber die Schweiz lässt die Menschen nicht im Stich. Das ist unser Grundsatz. Im Moment versuchen wir vor allem, die Abwärtsspirale zu bremsen und zu erhalten, was in den letzten 20 Jahren erreicht wurde. Zudem sind wir bestrebt, Projekte zu finanzieren, die die negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebensgrundlagen der Menschen mildern.

Worauf schauen Sie hier vor allem?

Im Vordergrund stehen Menschenrechte, psychosoziale Unterstützung und die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Bildung und medizinischer Hilfe. Man muss sich vorstellen: Die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan kann sich nicht mehr selbst ernähren. Eine sehr grosse Anzahl von Haushalten sind stark verschuldet und geben 80 Prozent ihres Geldes für Nahrungsmittel aus. Die humanitäre Situation vor Ort ist katastrophal.

Die humanitäre Situation vor Ort ist katastrophal.

Wie hilft die Schweiz, diese akute Not zu lindern?

Bereits am 8. September 2021 reagierte die Schweiz: Der Bundesrat beschloss, das humanitäre Engagement zugunsten der notleidenden Bevölkerung in Afghanistan und der Region zu verstärken. Ende 2021 bewilligte das Schweizer Parlament zusätzliche Mittel in Höhe von 23 Millionen Franken. Damit belief sich der Beitrag der Schweiz für Afghanistan im letzten Jahr auf 60 Millionen Franken. Und auch in diesem Jahr hat die Schweiz 30 Millionen Franken für die notleidende Bevölkerung in Afghanistan aufgebracht.

Fokussiert die Schweiz in Afghanistan also in erster Linie auf humanitäre Hilfe?

Die Menschen vor Ort brauchen dringend ganz grundlegende Dinge. Nichtsdestotrotz bemüht sich die Schweiz um eine Verbesserung der mittleren und langfristigen Situation. Die Herausforderungen, mit denen Afghanistan konfrontiert ist, bestehen schon lange und werden aller Voraussicht nach auch in den nächsten Jahren bleiben. Wenn zum Beispiel die Auswirkungen des Klimawandels nicht abgefedert werden können, wird die Ernährungssituation im Land prekär bleiben. Bis zu 80 Prozent der Bevölkerung leben direkt oder indirekt von der Landwirtschaft. Die Bewirtschaftung von Land und Wasser muss nachhaltig gestaltet und an den Klimawandel angepasst werden, sonst wird sich die humanitäre Situation nicht verbessern. Die Schweiz unterstützt Projekte, die die Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt und gleichzeitig die nachhaltige Produktion fördert.

Die Schweiz verurteilt in verschiedenen Gremien den Entscheid der Taliban, die Schulen für die Mädchen über 12 Jahren geschlossen zu halten.

Die Taliban haben viele Versprechungen, die sie bei der Machtübernahme abgegeben haben, nicht eingelöst. Die Beschränkung der Rechte von Frauen und Mädchen ist ein Beispiel dafür. Was heisst das für die Arbeit der DEZA und ihrer Partnerorganisationen? Lässt sich hier noch wirksam arbeiten?

Die Taliban haben die Rechte von Frauen und Mädchen stark eingeschränkt. Die Schweiz verurteilt in verschiedenen Gremien den Entscheid der Taliban, die Schulen für die Mädchen über 12 Jahren geschlossen zu halten. Die Schweiz unterstreicht dabei nicht nur die Menschenrechte, sondern auch, dass Frauen in der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes eine zentrale Rolle einnehmen. Soweit möglich unterstützen wir konkret Projekte von lokalen Frauenorganisationen und arbeiten eng mit der UNO-Organisation für Frauen (UN Women) zusammen.

Derzeit ist das Schweizer Kooperationsbüro in Kabul noch geschlossen. Gibt es Bestrebungen, es wieder zu öffnen – und wenn ja: welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein?

Die Situation wird vom EDA laufend analysiert. Momentan wird die temporäre Versetzung des Teams nach Pakistan geprüft, bis die Arbeitsaufnahme in Kabul wieder möglich ist. Bis dahin führen die Mitarbeitenden der DEZA ihre Arbeit von Bern aus fort. Wir sind nach wie vor bestrebt, unsere Ziele der internationalen Zusammenarbeit für und mit den Menschen vor Ort zu erreichen.

Es macht mich auch traurig, dass das Schicksal der Afghaninnen und Afghanen schon wieder von der internationalen Bildfläche verschwunden ist.

Sie selbst mussten vor einem Jahr Kabul verlassen. Wie erleben Sie persönlich seit Ihrer Evakuierung die Entwicklung in Afghanistan mit?

Es ist schockierend, verfolgen zu müssen, wie die Lebenssituation der Menschen in Afghanistan sich so schnell und scheinbar unaufhaltsam verschlechtert. Es macht mich auch traurig, dass das Schicksal der Afghaninnen und Afghanen schon wieder von der internationalen Bildfläche verschwunden ist und andern Schlagzeilen weicht. Was im Moment – und eigentlich seit fast 50 Jahren – in Afghanistan geschieht, schafft nicht Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben und die Lebensperspektiven der Menschen. Umso mehr ist unser Engagement notwendig und für die Menschen vor Ort wichtig.

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